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Das Digitale verdrängt das Soziale – und schwächt Jugendliche

Presseinformation
Heidelberg/Weinheim 24. November 2016

JIM-Studie 2016
Das Digitale verdrängt das Soziale – und schwächt Jugendliche

Die am Freitag erscheinende aktuelle JIM-Studie zeigt, dass die Nutzung mobiler Digitalgeräte und entsprechender Kommunikations-Apps bei Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 19 Jahren weiter ansteigt. Die Anwendung WhatsApp nutzen 95 Prozent der Jugendlichen, gefolgt von Instagram (51 Prozent) und Snapchat (45 Prozent) sowie Facebook (43 Prozent). Diese elektronischen Helfer sind fest im Kommunikationsalltag der jungen Menschen verankert.  
Es sind keine leichten Zeiten für die Jugendlichen: Die digitale Kommunikation überflutet sie mit Reizen und zwingt sie zum Multitasking. Die Aufmerksamkeitsspanne nimmt dabei immer weiter ab. Erst jüngst hat Microsoft eine neue Studie veröffentlicht, die zeigt, dass die Aufmerksamkeitsspanne beim Menschen von 12 Sekunden im Jahr 2000 auf 8 Sekunden im Jahr 2013 gesunken ist. Damit ist die Aufmerksamkeitsspanne von Goldfischen sogar noch um eine Sekunde höher als bei Menschen. Schuld daran sind die exzessive Nutzungen der oben genannten Kommunikationswerkzeuge und sogenannte soziale Netzwerke.

Die häufigen Unterbrechungen durch das Lesen, Schreiben und Beantworten von Kurznachrichten, das laufende Rezipieren von Smiley- und Bildnachrichten zerteilen den Alltag in Kommunikationshäppchen – und das beginnt gleich nach dem Aufstehen und reicht bis spät in die Nacht. Die Aufmerksamkeit dieser Jugendlichen richtet sich auf diesen Digital-Tunnel und verschließt ihnen zu großen Teilen den Blick auf die Realität. Das Digitale verdrängt in diesem Lebensbereich immer mehr das Soziale. Anstatt junge Menschen stark für das reale Leben zu machen, bieten immer mehr digitale Kommunikationsmöglichkeiten Fluchten in die virtuelle Kommunikationswelt. Die Risiken und konkrete Ausprägungen sind bereits heute zu beobachten: Sie zeichnen sich durch den Mangel oder die gänzliche Abstinenz von Sekundärfähigkeiten wie sozial-empathisches Verhalten, Konfliktverhalten in der Peergroup und narzisstisch-egoistisches Kommunikationsverhalten aus.

Jugendliche zum Multitasking gezwungen – Informationen vs. Wissen
Darüber hinaus ist der organisatorische Zwang des Multitasking bei nahezu allen Jugendlichen gegeben. Obwohl der Informationsgrad bei den Jugendlichen sehr hoch ist, wissen sie längst nicht so viel, wie sie glauben. Informationen rezipieren sie meist nur kurz, aber im Wissenskontext des Gehirns kommen sie meist nicht an. Die geringe Aufmerksamkeitsspanne und dauerndes Multitasking führen dazu, dass die Jugendlichen immer schneller den Faden verlieren. Wie sollen hier die Fähigkeiten erworben werden, komplexe reale Probleme zu lösen, deren Bearbeitung länger als fünf Minuten dauert? Wie sollen sich Persönlichkeitsstrukturen entwickeln, die (auch) auf dem Scheitern und erfolgreichen Bearbeiten von komplexen Aufgaben basieren? All das verwehren sich die Jugendlichen selbst durch ihre wachsende Digitalkommunikation und ihren Digitalkonsum.

Jugendliche beklagen digitalen Stress
Zunehmend klagen die Jugendlichen in der Sinus-Studie über digitalen Stress, verursacht durch bis zu 3000 WhatsApp-Nachrichten monatlich, die gelesen und geschrieben werden. Immer mehr Jugendliche mögen nicht auf die digitale Kommunikation verzichten, zeigen sich aber von der hohen Taktung der eintreffenden Nachrichten genervt. Ein Dilemma, aus dem die jungen Menschen häufig allein nicht mehr heraus kommen. Bewiesen ist, dass das Eintreffen von neuen Nachrichten das limbische System im Gehirn antriggert. Dies schüttet Belohnungsstoffe bei jeder neuen Nachricht aus. Der Prozess ist identisch mit der Entstehung von Suchtverhalten. Die erneut wachsenden Nutzungszahlen (mit Ausnahme von Facebook) bei Jugendlichen innerhalb der sozialen Medien deuten darauf hin, dass dieser Prozess bei vielen Jugendlichen bereits mitten im Gang ist. Die ambivalente Routine des eigenen Digitalverhaltens kann in den meisten Fällen nicht mehr alleine durchbrochen werden.

Es bedarf daher viel größerer Informations- und Aufklärungskampagnen über das hohe Suchtpotenzial bei Jugendlichen in Elternhäusern und Schulen. In gleich starkem Maße sollten Jugendliche lernen, wie sie konstruktiv mit digitalen Mobilgeräten umgehen. Es erfordert neue Organisationsformen des Wissens, um das dauerhaft überforderte Gehirn zu entlasten. Dies zu lernen, erfordert hingegen nicht nur digitale Medien.

Wir sollten nicht bis zum Jahr 2045 warten, in dem unsere Aufmerksamkeitsspanne voraussichtlich auf Null gesunken sein müsste und gleichzeitig hoffen, dass  Computer bis dahin schlau genug sind, um uns komplett zu ersetzen.

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Über Professor Dr. Gerald Lembke
Gerald Lembke ist Professor für Digitale Medien an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Sein Forschungsgebiet ist das digitale Mediennutzungsverhalten. Er ist Buchautor und Berater für den Einsatz und den Umgang mit Digitalen Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Zu seinen jüngeren Publikationen zählen „Im digitalen Hamsterrad – Ein Plädoyer für den gesunden Umgang mit Smartphone & Co“ und „Die Lüge der Digitalen Bildung“ mit dem Ko-Autor Ingo Leipner.
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