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Wölfe

Autor Mantel, Hillary
Verlag sonstige
Seiten 768 Seiten
ISBN 978-3-8321-9593-9
Preis 22,95

„Die Choreografie der Macht“ werde, so steht es im inneren Teil des Klappentextes, erforscht. Ja, man kann viel lernen nicht nur über sichtbare Insignien von Macht in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, sondern auch über die Sprache, nonverbale und die verbale, von Macht. Sowohl in dem Vorgang des Be- und Ermächtigens als auch in dem des Beherrschens, dem Ausüben von Einfluss sowie dem des Gewinnens. Hillary Mantel ermöglicht es dem Leser zudem, den Kontext von Mächtigen und Macht zu verstehen und damit die je nur vorübergehende und sich rasch wandeln könnende Konstellation von Macht, den Mächtigen und Bemächtigten. Im Hofe der Macht werden Menschen geführt – und auch diesbezüglich ist die Figur des Thomas Cromwell inspirierend.

Doch ist das nur einer der zahlreichen anregenden Gesichtspunkte des Buches über den Aufsteiger Thomas Cromwell, dem politischen Gegenspieler des Juristen und streng gläubigen Thomas Mores (Autor von „Utopia“). Die Sprache der Autorin ist präzis und gleichzeitig an phantasievollen Metaphern, die überdies in die Zeit, in der ihr Roman angesiedelt ist, hineinpassen. Ihre Sprache zaubert den Leser hinein in kleinste Kleinigkeiten genauso wie in Großereignisse. Fein abgestimmt erscheinen Schilderungen über Phänomene des Alltags (Essengerichte, Kleidervarianten, Wettergeschehen), Gemütsverfassungen, Erinnerungsbilder und –szenerien – ihren Ausgang nehmend von jeweiligen Tagesereignissen. Ein nicht nur spannend erzählter Roman, sondern ein literarischer Genuss!

Die Person Thomas Cromwell – das wurde häufig hervorgehoben – wird in diesem Roman, der etwa 3 bis 4 Jahre vor seinem von Henry VIII angeordneten gewaltsamen Tod endet – die Persönlichkeit dieses bedeutsamen Mannes wird so dargestellt, dass der Leser ihm (und nicht, wie gewöhnlich, Thomas More) mit Sympathie zugeneigt ist. Hillary Mantel schildert aus seiner Perspektive, ohne ihn als Helden hervorzuheben. Die Dominanz (und wohl auch ihre eigene Sympathie) übersetzt sie durchaus mit literarischen Elementen. Etwa indem Sie von ihm meistens als „er“ spricht – fast immer in jenen Passagen, in denen die Wahrscheinlichkeit gering ausfällt, dass der Leser die gemeinte Person verwechselt. Zuweilen scheinen Sicht, Gedanken, Empfindungen von „er“ und „ihr“, nämlich der Autorin, zu verschmelzen.

Die Persönlichkeit beleuchtet Hillary Mantel, ohne zu psychologisieren, indem sie Thomas selbst denken und handeln lässt. Der Leser lernt ihn in dem Maße kennen, wie er sich selbst zum Gegenstand seiner Beobachtung oder Erinnerung macht – und das bedeutet, dass Lücken bleiben. Kein Mensch reflektiert das eigene Leben vollständig, so auch Thomas Cromwell nicht. Erinnerungen aus der Kindheit (von Brutalität und der Zuversicht eines sich als verloren geglaubten Kindes gekennzeichnet) entzünden sich an aktuellen Ereignissen. Vage kann der Leser rekonstruieren, wie aus dem von zu Hause weggelaufenen Jungen diese Persönlichkeit mit enzyklopädischer Bildung, mehrere Nationalsprachen beherrschender Geschäftsmann, Virtuose der empathischen Verhandlung und die rechte Hand des Königs wurde. Das Rätseln darüber spiegelt sich in den Mutmaßungen einiger Zeitgenossen, Freunden wie „geschätzten Feinden“ wider.

Thomas Cromwell Charakter ist zutiefst humanistisch – gegenüber Freunden wie Feinden und auch Marlinspike, der Katze mit unzähligen Leben. Hillary Mantel schildert den Ziehsohn von Kardinal Wolsey als außergewöhnlich aufgeklärten und fürsorglichen „Vater“ für leibliche wie fremde Kinder, für dem eigenen Hof zugehörige Personen, aber auch für aus dem Bekanntenkreis oder aus der Armut genommene Mündel. Sie zeigt ihn als nachdenklichen, sensiblen und zugleich weit gereisten, in unterschiedlichsten Rollen erfahrenen, als äußerst diplomatischen, mit Charme und Gerissenheit in wirren mikropolitischen Spielchen sich einfindenden und auskennenden, Schwächen und Stärken nutzenden Mann. Sie demonstriert, dass sachliche Gegnerschaft (Thomas More der Papstanhänger und dogmatische Christ, Thomas Cromwell als dem König treu ergebener Untertan, der einer der Förderer für die Verbreitung der Bibel in englischer Sprache war) nicht zum Wunsch führen muss, den Gegner vernichtet zu sehen: Immer wieder schildert die Autorin Bemühungen Thomas Cromwells, dem selbst bereits im Tower untergebrachten Thomas More zur Umkehr zu bewegen und dabei „smarte“ Varianten vorzuschlagen, die der Logik des Sowohl-als-auchs gehorchen. Auch um das Wohl des Gefangenen wie dessen Familie kümmert sich Thomas Cromwell.

Häufig agiert er in einer motivationalen Mischung aus Fürsorge politischem Kalkül. Das ist keinesfalls abwertend oder geringschätzend gemeint. Denn diese konsensorientierte Aktivität nutzt allen Seiten, zuweilen in unterschiedlicher Gewichtung.

Lassen Sie sich durch diesen historischen Roman, der offenkundig fundiert recherchiert, in die Epoche Henry VIII entführen; sie wird Ihnen nicht nur den Hof und seine Rituale nahe bringen, sondern auch Alltagserscheinungen. Genießen Sie und lassen Sie sich berühren von der schlichten und zugleich aufwendigen, an Sprachbildern reichen und bunten Sprache der Autorin. Und beleuchten Sie jene geschichtlich bedeutsame Figur mit dem einfühlsamen Licht von Hillary Mantel, die in bisherigen Darstellungen stets den „bad guy“ abgab, während der populäre Gegenspieler, Thomas More, den Part des „good guy“ innehaben durfte.

Noch etwas: Diesen Roman werden Sie mehr als ein Mal lesen!

Dr. Regina Mahlmann
www.dr-mahlmann.de
info@dr-mahlmann.de
 

Dr. Regina Mahlmann