Skip to main content

Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur

Autor Alexander Unzicker
Verlag Westend
ISBN 978-3-864-89244-8

Ein flüssig lesbares Buch, in dem der Physiker und Sachtextautor einen Aufruf verfasst: Mit dem Pathos des Imperativs von Immanuel Kant appelliert er, den eigenen Verstand zu gebrauchen (idealerweise ohne Anleitung im Sinn des Nachplapperns von unreflektiert Aufgenommenem), um insbesondere zweierlei zu leisten. Zum einen die Informationsflut auf ihre Relevanz hin zu sortieren, damit zu gewichten und sich dadurch von Müll (Spam) zu trennen, um den Kopf frei(er) zu kriegen, um zu reflektieren, was man wahr-, aufgenommen hat. Zum zweiten möge jeder mindestens parallel zu Angeboten der Mainstreampresse und –medien jene Informations-, Erklärungs-, Begründungsangebote sichten, die sich gegen bzw. abseits der Hauptströmungen befinden. Beispiele für solche Literatur findet der Leser im Anhang des Buches unter „Alternative Nachrichtenquellen“.

Alexander Unzicker dekliniert sein Anliegen in drei Kategorien: Sehen bzw. Wahrnehmen und Auswirkungen auf das Für-Wahr-Nehmen; Denken als unbewusstes und bewusstes, in Anlehnung an die zwei Systeme von Daniel Kahneman (der oft fälschlicherweise mit doppeltem „n“ geschrieben ist), an psychologische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zur Beeinflussbarkeit von Menschen durch Gruppen sowie kognitiven Fallen. Die dritte Kategorie ist dem Handeln zugeordnet und betont im Rahmen von Parametern für ein demokratisches und friedvolles Zusammenleben (Recht, Frieden, Freiheit) die Bedeutung von „Einkehr“ im Sinn der Bedingung der Möglichkeit, den eigenen Verstand und das zweite System Daniel Kahnemans den Vorrang einzuräumen, um mediale Angebote selektiv zu nutzen, bewusst und kritisch zu reflektieren.

Ob Leser dem Autor in seinen Überzeugungen, Wertungen und Plädoyers auf inhaltlicher Ebene folgen will, ist ihm natürlich überlassen. Vielmehr geht es um die Logik oder das Prinzip der kritischen Überprüfung. Dies genügt, um darauf gestoßen zu werden, was gegenwärtig in gerade demokratisch verfassten Gesellschaften zu kurz kommt: die Dominanz und Selbstgerechtigkeit von Emotionen und Affekten, von Voreingenommenheit und ideologischer Verblendung, mitsamt den Folgewirkungen, die täglich zu registrieren sind, grundlegend in Frage zu stellen und sich des eigenen Verstandes in kritischer, diskursiver, also argumentativer Weise zu bedienen. Die Dringlichkeit dafür wächst mit jedem Tag.

Das Plädoyer umzusetzen, muss jedem in seiner Lebensführung überlassen sein. Die – zuweilen selbst etwas hilflosen Empfehlungen des Autors – können Normalsterbliche, die in einem beruflichen und privaten Umfeld bereits zeitlich enorm gefordert sind, nicht erfüllen. Indes ist es auch und vielleicht gerade ihnen möglich, sich durch reflektiertes Wahrnehmen, Denken und Handeln nicht nur eines wachen und kritischen Geistes zu erfreuen, sondern durch den Fokus auf Verstandestätigkeit sich das zu schaffen, was heutzutage „Quality Time“ genannt wird.

Regina Mahlmann