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Verloren unter 100 Freunden

Autor Turkle, Sherry
Verlag Riemann
ISBN 978 3 570 50138 2

Sherry Turkle ist eine Wissenschaftlerin, die sich seit rund drei Jahrzehnten empirisch und psychologisch mit den Auswirkungen befasst, die sowohl das Heranwachsen mit Robotern als auch mit mobilen digitalen Medien auf die seelisch-geistige Verfassung und das soziale Verhalten von Menschen haben. Sie ist klinische Psychologin und Gründerin sowie Direktorin der „MIT Initiative on Technology and Self“ am Institute of Technology (MIT). Sie untersucht Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene bis ins Seniorenalter.

 

Das Buch, das sich in Teil 1 der „Stunde des Roboters“ und in Teil 2 „Vernetzt“, der Digitalisierung widmet und beide Teile miteinander verbindet, erschüttert und weckt zugleich Hoffnung.

 

Erschüttern tut es, weil die Autorin mit unzähligen Beispielen biographischer Episoden von Interviewten und Probanden, die an Untersuchungen teilgenommen haben, und auch von ihrer Tochter und sich selbst, belegt, wie tiefgreifend multimediale Sozialisation und Kulturisation Gefühls- und Geistesleben und folglich auch innere Bereitschaften, Einstellungen, Handeln und Verhalten verändert. Schlüssig weist sie auf, wie zwar nicht grundlegende anthropologische Bedürfnisse verändert werden, sondern Bereitschaften und Fertigkeiten, mit ihnen im Leben umzugehen.

 

Der Untertitel suggeriert, die Autorin nähme nur negative Auswirkungen in den Blick. Das ist keinesfalls so. Immer wieder betont sie, welche Möglichkeiten Roboter und digitale Medien(nutzung) bieten, wem sie wann inwiefern helfen können. Zugleich legen die Forschungen nahe, alarmiert zu sein. Und das verdankt der Leser vor allem den Zitaten von Probanden, medienhistorischen Herleitungen sowie (häufig) psychoanalytischen und sozialpsychologischen Überlegungen, die Sherry Turkle anschließt oder einwebt. Zudem bereichern Fußnoten und Literaturhinweise die Lektüre.

 

Hoffnung vermitteln die klugen und sensiblen Ausführungen vor allem dort, wo junge Erwachsene ihre eigene Verschlungenheit mit Robotern, Avataren, sozialen Netzwerken in einer Weise thematisieren, die sie zum Rückzug nötigt. „Aussteigen“ aus Erschöpfung, aus Überforderung, aus Disstress, aus der Oberflächlichkeit der Kommunikation und der Masse an „Freunden“, die nach Möglichkeit nur noch via Schriftnachricht kontaktiert werden und werden wollen – weil es schneller ist als mündliche Kommunikation (Telefon, face-to-face), weil es die direkte Konfrontation vermeidet, weil es emotionale Distanz ermöglicht. Und das bei gleichzeitig nahezu unersättlicher Sehnsucht nach Geborgenheit und Zugehörigkeit, nach Anteilnahme und „voller Aufmerksamkeit auf mich“, nach unmittelbarem „Feedback“ auf gesandte Nachrichten.

 

Die Autorin thematisiert immer wieder die egozentrierte und vor allem in der Kategorie der Nützlichkeit auswählende Wahrnehmung in der Lebensführung, in Erwartungen und Wünschen, in Geben und Nehmen, in sozialen Situationen, die Außengeleitetheit, die Abhängigkeit und damit Gesteuertheit von und durch andere. Sie führt vor, worin die „seelische Verkümmerung“ besteht und wen sie trifft, und verweist ebenso auf das Risiko, eine Identität quasi ausschließlich kommunikativ, sozial herzustellen im Vergleich zu dem, was bis anhin Autonomie des Subjekts genannt wurde. Diese kann kaum noch realisiert werden, wenn Menschen im Dauergespräch sind und ihre Gedanken nicht selbst denken, sondern andere denken lassen – Denken als etwas, das nicht mehr individuell getan wird, sondern dem überlassen wird, was in der Kommunikation via Messages getan und hergestellt wird.

 

Sherry Turkle ruft zum Reflektieren auf, das in Handeln mündet. In ihrem Schlusswort „Worüber wir sprechen müssen“ pointiert sie: „Vielmehr glaube ich, dass wir einen Wendepunkt erreicht haben, an dem wir die Konsequenzen unseres Handelns erkennen und die entsprechenden Gegenmaßnahmen einleiten können. Wir werden mit ganz einfachen Dingen beginnen. Einiges wird aussehen, als würden wir uns einfach wieder gute Umgangsformen aneignen …. Es wird auch schwierigere Aufgaben geben.“ (496)

 

„Wenn wir uns erst einmal daran erinnern, dass wir diejenigen sind, die diese Technologien beherrschen lernen müssen, werden wir es bekommen.“

 

Lehrende, Psycho- und Pädagogen, Weiterbildner, Berater aller Branchen und Genre sind aufgerufen, dabei tatkräftig mitzuhelfen – anstatt wie Lemminge Trends und Hypes hinzunehmen, ihnen hinterherzulaufen und simpel in rein affirmativer Hinsicht auf ihre Praxis zu übersetzen! Dieses Buch zu lesen, kann ein Anfang sein.

Dr. Regina Mahlmann