The Rest is Noise
Autor | Alex Ross |
Verlag | Piper TB |
ISBN | 978-3-492-30189-3 |
“Das 20. Jahrhundert hören“ lautet der Untertitel – und „Ein Meilenstein in der Geschichte der modernen Musik“ die Überschrift der U4 dieser Taschenbuch-Ausgabe. Sie bezieht sich auf das gebundene Original von Piper aus dem Jahr 2009, das englische Original stammt aus dem Jahr 2007. Doch ist dieses naturgemäß so „neu“ wie aktuell wie damals: Es endet mit dem Jahr 2000 – und dehnt über die besprochenen Personen seine Betrachtung zugleich nach hinten wie nach vorne aus. Weit mehr als ein Jahrhundert wird hier also betrachtet, genauer: Das Ohr an die Musik gelegt, wirklich höchst lesbar, auch für mich als Klassik-Freund, frei von jeglicher Professionalität. Und mit hehrem Anspruch: „The Rest is noise“ (angelehnt an „the rest is silence“ als letzte Worte von Prinz Hamlet bei Shakespeare) sagt ganz klar aus: Was ich hier verschweige, an Klassischer wie Neuer Musik, das ist keine, vielmehr nur Geräusch. Bei fast 700 Seiten Umfang (inkl. umfangreicher, hilfreicher Register) klingt das durchaus glaubhaft. So kann dieses Füllhorn an Besprochenem die wahre Quelle für jeden sein, der sich über das orientieren möchte, was im 20. Jahrhundert Klang, Rang und Namen hatte! Schön die Zusammenfassung dessen erster Hälfte zum Einstimmen in „Schöne neue Welt – Der Kalte Krieg und die Avantgarde der Fünfziger“ (S. 394ff.): „Das Jahrhundert begann mit der Mystik der Revolution, mit den verstörenden Harmonien und welterschütternden Rhythmen von Schoenberg und Strawinsky. Schon in den Zwanzigern war der Prozess der Politisierung in vollem Gange, als Komponisten darum wetteiferten, den wechselnden Trends vorauszueilen, und sich gegenseitig vorwarfen, regressive Tendenzen zu vertreten. In den Dreißigern und Vierzigern wurde die gesamte romantische Tradition praktisch von den totalitären Regimes annektiert. Doch nichts davon konnte sich mit dem messen, was nach dem Ende Zweiten Weltkrieges und mit dem Beginn des Kalten Krieges geschah. Die Musikwelt explodierte zu einem Tohuwabohu von Revolutionen, Konterrevolutionen, Theorien, Polemiken, Allianzen und Parteiungen. Die Sprache der musikalischen Moderne wurde praktisch jedes Jahr neu erfunden: Zwölftonmusik wich der „seriellen Musik“, diese wiederum der Aleatorik, diese einer Musik frei flottierender Klangfarben, diese neodadaistischen Happenings und Collagen und so weiter und so fort.“ Womit Leser zugleich ins neue Kapitel (= Unter-Zeitalter) eingeführt wird … Dargestellt auch anhand der Lebens- und Werksgeschichte handelnder Personen, durchaus wieder kehrend in verschiedenen Umgebungen, teils durch lange Zeit im 20. Jahrhundert wirkend. Wer mit wem und gegen wen und wo, beeinflusst durch politisches Geschehen, teils gezwungen zum Tun gegen die eigene (Musiker-)Natur: Spannend und zugleich unterhaltsam, ergo: entspannend! Mit vielen, sehr vielen Hintergrund-Informationen, die für mich – ich gestehe es: Musik-Hobbyist, keineswegs Fachmann! – in höchstem Maße neu waren, etwa die Rolle jener Stadt, in der ich einige Jahre als Interim-Manager tätig war – und die ich zwar als Wissenschafts- und Kunst-Stadt wahrgenommen habe (siehe Jugendstil), doch kaum als eine der Musik: „Hinter Darmstadts hypermoderner Fassade lauerten einige durch und durch traditionelle Obsessionen des 20. Oder gar 19. Jahrhunderts: der revolutionäre Impuls, der Drang, die bürgerliche Ordnung zu zerstören, das uralte Sehnen nach Erhabenheit und Transzendenz.“ (S. 438) Oder musikalische Entwicklungen jenseits jeglichen Wahrnehmens: „Zu diesem Zweck ersann Partch eine Tonleiter, welche die Oktave nicht in zwölf, sondern in 43 Töne aufteilte. Existierende Instrumente konnten solche mikrotonalen Schattierungen nicht wiedergeben, also erfand Partch seine eigenen.“ (S. 529) Wunderbar die „Hör- und Lesevorschläge“, die der Autor seinen Lesern mitgibt (S. 600ff.): Anregungen, sich zu vertiefen in Tonales wie auch Verbales. Viel Lese- und Hör-Vergnügen wünsche ich Ihnen! –