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Still.

Autor Cain, Susan
Verlag Riemann
ISBN 978 3 570 50084 2

Das Verdienst dieses populären und dank zahlreicher Anekdoten, Geschichten, Erlebnisschilderungen, Rekurs auf bekannte Persönlichkeiten leicht lesbaren Buches besteht zweifellos in zweierlei: darin, für bestimmte Aspekte der Jungianischen Kategorie der Introversion in einer dominant extravertierten Welt zu sensibilisieren und die notwendigen wie nützlichen Leistungen introvertierter Seins- und –Verhaltensweisen herauszustellen. Und zweitens darin, Menschen, die sich maßgeblich introvertiert fühlen und sich fragen, ob sie „irgendwie falsch“ seien, dazu zu ermutigen, zu dieser Persönlichkeitskomponente zu stehen, sich „richtig zu fühlen“ und sich ihr Leben entsprechend zu arrangieren.

 

In den drei Teilen des Buches: „Das Ideal der Extraversion“, „Unsere Biologie, unser Selbst“ und „Formen der Liebe und Arbeit für Introvertierte“ führt die Autorin die Polarität von Extra- und Introversion über gesellschaftliche Beobachtungen, biologische, neurowissenschaftliche (physiologische, psychologische) Experimentalergebnisse (hauptsächlich mit Referenz auf einzelne, meistens in Aufsätzen publizierten Einzelresultaten) und stets unterlegt mit und eingerahmt von illustrierenden Erzählungen aus. Das alles hat einen hohen Plausibilitätswert. Und dennoch – zuweilen geraten die Ausführungen (trotz relativierender Hinweise) etwas zu plakativ und zu einfach (etwa der Verzicht auf die differenzierende Unterscheidung von Vigilianz und gerichteter Aufmerksamkeit), als sie wissenschaftlichen Überlegungen und Erkenntnissen standhalten könnten. Das mag zum einen der Sympathie für Introversion geschuldet sein (die Autorin selbst rechnet sich diesem Typus expressis verbis zu), zum anderen der Überstrapazierung der Polarität. Denn streckenweise erwecken die Ausführungen den Eindruck, alle möglichen Differenzen in Denkweise, Fühlweise, Verhalten von Menschen (auch: unterschiedlicher Kulturkreise) seien auf die Polarität zurück zu führen (sekundiert von einem fast tautologisch anmutenden Verhältnis von Definition und Beobachtungen, z.B. S. 308, wo es um Leistungskategorien geht).

 

Gerade jene Leser, die sich gern in einen eher gefühlten Plausibilitätsstrom hinein begeben, seien darauf verwiesen, dass vermeintlich offenkundige Korrelationen, etwa die zwischen Introversion und Schüchternheit, keine sind. Also aufpassen; denn andern falls werden Klischees bedient und gehen Unterscheidungen, die Susan Cain mit Hilfe empirischer Daten und Wissenschaftler durchaus macht, unter. Ähnliches trifft auf vermeintliche Korrelationen bei Extraversion zu, etwa der nicht nachgewiesene Zusammenhang von Souveränität und extravertierter Lebensweise.

 

Die Pole nähert die Autorin zunehmen einander an – legitimiert durch den Umstand, dass sich zahlenmäßig Extra- und Introvertierte angeblich grosso modo die Waage hielten; dass jeder Mensch beide Anteile in sich trage, nur in verschiedenen Ausmaßen und mit verschiedenen Schwerpunkten und ein komplementäres Verständnis der Anteile sowohl innerhalb einer Person als auch interpersonal die reichsten Ernten einfahren ließen, sei es in der persönlichen Leistung, sei in Beziehungen. Diesem Gedanken folgt Susan Cain insbesondere im dritten Hauptteil, in dem Sie Empfehlungen für Arrangements ausspricht, die sich teils ihrem eigenen Erleben verdanken, teils vorhandener Literatur und Praktiken.

 

Kernpunkt ist sicherlich diese Botschaft: Eine der gesellschaftlich bedeutsamen Stärken von dominant Introvertierten ist es, dem Denken dem Fühlen den Vorzug zu geben, weniger schnell in Aktionismus zu verfallen, Selbst-, Fremdbeobachtung einen hohen Stellenwert einzuräumen und folglich eher bereit und fähig für fundierte empathische Verhaltensweisen zu sein. Um dies zu realisieren, bedarf es der Option, sich (zum Denken) zurückzuziehen. Wenn sich allein diese Erkenntnis und dieser Zusammenhang gesellschaftsweit durchsetzten, wäre allen geholfen, privat und beruflich – denn dann könnten sich die Stärken beider Ausprägungen konfliktärmer zusammenschließen und Synergien erzielen.

 

Das Buch bietet die Möglichkeit zu einer Vergnügen bereitenden und im sokratischen Sinn weiter führenden skeptisch befragenden Lektüre.

Dr. Regina Mahlmann