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Spiegel und Licht

Autor Hilary Mantel
Verlag duMond
ISBN 978-3-8321-9724-7

Der besondere historische Roman: die Tudor-Trilogie, nun der abschließende dritte Band…
Die Virtuosität von Dramaturgie, Stil, Sprachniveau und rhetorischer Vielfalt, die Eleganz metaphorischer Schilderungen, die Akkuratesse der Recherche, die selbst Historikern Respekt abringt; die Brillanz der Erzählweise (das Er/Ich des Thomas Cromwell) – all dies sowie die Geschichte und das Hauptmotiv von Hilary Mantel, diese historische Figur in einem dreibändigen Werk zum Zentrum erkort zu haben, sie lebendig, konkret, erfahr-, gar nahbar gemacht und in einer Art Charakterstudie profiliert, sie sowohl in den Kontext subjektiver Disposition und Motiviertheit als auch damals vorherrschender politischer, gesellschaftlicher, „höfischer“ Politiken gestellt zu haben – all dies und auch, außerhalb des Romans, die Begleitumstände der sieben bis acht Jahre, in denen Hilary Mantel die Publikation vorbereitete, wurde von ihr selbst in Interviews, im beiliegenden Booklet sowie von Rezensenten hinlänglich gepriesen und gewürdigt, und dem ist nichts hinzuzufügen.
Daher also keine Wiederholung, sondern die Verschiebung des Blickwinkels oder – wie es oft heißt – der Lesart hin zu einer Option, die Persönlichkeit Cromwells, seines Denkens, Fühlens und Handelns, einschließlich der außerpersönlichen Einflussfaktoren, zu verknüpfen mit einem Schlagwort der Gegenwart: Resilienz.
In dem letzten Band der Trilogie wird auch Thomas Cromwell, der Reformator, auf dem Schafott enden. Selbst ihm, der Heinrich VIII zum staatlichen und kirchlichen Oberhaupt machte, widerfuhr etwas, das auf wirtschaftspolitischer Ebene als Schwarzer Schwan (N.N. Taleb) bezeichnet wird: Der König war selbst für ihn nicht zuverlässig berechenbar. Und dann ist da noch Mary, die Tochter des Königs aus erster Ehe und strikt katholisch. Thomas Cromwell wird selbst vom König gefragt, warum er sie beschütze.
Der Band „Spiegel und Licht“ gewährt (vermehrt) Einblicke in das Gewordensein des Soseins, in die sozialisatorischen und subjektdynamischen Motive und Motivationen des Vorbereiters der Anglikanischen Kirche Englands. Resilienz, um einen gegenwärtig häufig gebrauchten Begriff und Desiderat zu verwenden, ist die Fähigkeit, aus Niederlagen und inmitten widriger Umstände nicht nur je „das Beste draus zu machen“, sondern zu wachsen, zu reifen, sich mittels einer Perspektive auf diese zu konzentrieren, zu disziplinieren, Fähigkeiten und Fertigkeiten darauf zu richten und Hürden als Lernerfahrung zu nutzen. In diesem Sinn verkörpert Thomas Cromwell Resilienz.
Und Souveränität, deren Hauptcharakteristikum die Selbst-Beherrschung und Selbst-Steuerung sind, die er in der Regel zeigt, von sich selbst erzwingt, ab und zu scheitert, aber auch dies reflektiert, und in der Lage ist, rational (auch: machtpolitisch) gesteuert eigene Ansichten, Überzeugungen, Glaubensinhalte in einen inneren Raum zu verschließen, zu dem nur er Zugang hat und dessen Herrscher er ist.
Authentizität – auch dies ein noch dazu psychologistisch verkleidetes Schlagwort in der westlichen Hemisphäre, mit dem seit etwa drei Jahrzehnten hinausposaunten Pathos der erwünschten, gesollten Äußerung von Gefühlen und Gesinnung – sie ist zu einer solchen Lebensleistung, wie sie Thomas Cromwell zeigt, nicht fähig. Die Nichtechtheit, das Schauspielerische kann als Bedingung der Möglichkeit für Professionalität und einen langen Atem, Durchhaltevermögen trotz enormer Hindernisse, als notwendiges Ingredienz für diplomatische Erfolge gelten.
Und was ist mit Thomas Cromwells Hinrichtung? Von ihm lernen heißt ja offenkundig nicht, siegen lernen. Darum geht es nicht. Die Darstellung der Figur eignet sich vorzüglich zur Selbstreflexion in Bezug auf die genannten Schlagworte und die Leistungsfähigkeit ihrer Konzepte im privaten, beruflichen, politischen Raum. Nebenbei kann der Leser mitverfolgen, was es heißt, einen persönlichen „Purpose“ (aktuelles Buzzword) zu haben. Er kann erkennen, welche Tragkraft eine Vision hat, die bei allen persönlichen Ambitionen nach Reichtum (Sicherheit) und Macht (gestaltender Einfluss) den das Subjekt transzendierenden „höheren Sinn und Zweck“ zeigt und (s)einer Bestrebung erklärt. Das ist keine Lebensversicherung, doch immerhin das, wovon Unternehmensberater und Weiterbildner noch wortreich reden: sinnhaftes Tun.
Thomas Cromwell, Reformator, Förderer wie Vernichter, Ermöglicher wie Verhindernder, Emporgehobener und Fallengelassener, ist sich für nichts zu schade und eine beeindruckende Gestalt, die und deren Bedeutung dank Hilary Mantel erstmalig auf die Bühne befördert wird. Auch dafür ist ihr zu danken.

Regina Mahlmann