Skip to main content

Should we always act morally?

Autor Schleidgen, Sebastian (ed.)
Verlag Tectum
ISBN 978 3 8288 2827-8

Wer sich – affirmativ oder kritisch – in den letzten Jahren über die Moralisierung öffentlicher, ökonomischer und politischer Diskurse gewundert und über die Frage nachgedacht hat, inwiefern diese Entwicklung notwendig, nicht notwendig, in Teilen notwendig und nicht notwendig und/ oder wünschenswert ist (persönlich als Staatsbürger, gesellschaftskritisch), welche Implikationen damit verknüpft sind, sowohl individuell als auch sozial, der erhält kognitives Futter durch diesen Essayband.

 

Der Band, dessen Frage im Titel selbst moralisch ist, knüpft an eine bereits in den 1980er begonnene philosophische Debatte an, deren Hauptakteure Susan Wolf, Bernard Williams, Michael Slote heißen; letztgenannter ist mit einem Essay vertreten, der seine frühere Position Revue passieren lässt und korrigiert.

 

Ohne auf einzelne der sieben Essays einzugehen: Sie sind scharfsinnig, philosophisch und orientieren sich nicht nur an den drei genannten Akteuren, sondern auch an der Moralphilosophie eines Immanuel Kant. Die Bezüge (Interpretationen und Verwertungsweisen des jeweiligen Autors) fallen unterschiedlich bis konträr aus, `mal bejahend und Kants Pflichtenethik und seine Moralbegründung zustimmend verarbeitend, `mal in kritischer Absetzung. Außerdem ist die Prägung der Debatte durch die drei genannten Personen präsent; ein Aufsatz widmet sich ihnen in ausgiebiger Deutung, um die eigene Präferenz für die Overridingness-These zu begründen.

 

Worum geht es?

 

Es geht um die Frage danach, ob und inwiefern und mit welchen Implikationen und Folgen für die Integrität, die Autonomie und Sozialität des Einzelnen sowie für Interaktionen und soziale Gebilde Moralität schlussendlich immer die Oberhand gewinnt (gewinnen muss, soll) oder eben nicht. Die Autoren vertreten verschiedene Positionen und erläutern sie mit klugen, präzisen Gedanken – stets mit Blick auf die These von der Overridingness von Moral(ität). Es gibt jene, die die Overridingness-These ausnahmslos und grundsätzlich bejahen; jene, die sie zurückweisen und jene, die ein differenziertes Sowohl-Als-auch probieren. Moralität, moralische Motive und Ziele, moralisches Handeln werden in Bezug gesetzt zu der (vor allem: persönlichen) Relevanz nicht-moralischer Ambitionen, subjektiver, intrinsischer Bedürfnisse wie zum Beispiel dem Ehrgeiz, „der Beste“ auf einem Gebiet zu sein. Zwickmühlen werden thematisiert, da sich die Frage nach der Dominanz von Moralität besonders im Konfliktfall offenbart: Soll ich mein Leben der Versorgung meiner Herkunftsfamilie widmen oder meinem inneren Drang nachgeben, ins Ausland zu gehen?

 

Was der Band nicht vorhat: eine Erläuterung dessen, was Moral und Moralität bedeuten (dies findet sich innerhalb der Essays fast nebenbei, wird also vorausgesetzt) und Zusammenstellung moralphilosophischer, ethischer Abhandlungen! Dies hervorzuheben, ist wichtig, weil sich die Essays innerhalb eines Grundkanons bewegen und um die im Titel des Bandes formulierte Frage kreisen.

 

Bei der Lektüre stoßen die Leser auf Aspekte, an die sie im Zusammenhang mit Moralität nicht gedacht haben – und so intellektuelle Überraschungen erleben. Die Aufsätze fordern hohe Konzentration, weil andernfalls der rote Faden spitzfindiger Interpretationen und Argumentationen rasch verloren geht. Und das wäre bedauerlich. Denn die Rationalisierung des Diskurses der Overridingness-These ist es, die die Aufsätze kennzeichnen.

 

Ein lesenswerter Band, der eingedenk zunehmender moralisierter Begründungen für Handlungen (ob seitens sogenannter „Wutbürger“, politischer Entscheidungsträger, Journalisten …) die Möglichkeit in sich trägt, eine durchaus klärende und sinnvolle Kontroverse zu eröffnen bzw. zu popularisieren – auch und gerade unter dem Vorzeichen politischer Partizipation, bürgerlicher Freiräume, Selbst- und Fremdbestimmung, freundlicher Nachbarschaft und einer intellektuellen statt gefühligen Diskussionskultur.

Dr. Regina Mahlmann