Seltsame Sally Diamond
Autor | Liz Nugent |
Verlag | Steidl |
ISBN | 978-3-96999-322-4 |
Dieser einfühlsame Lokalkrimi erscheint als eine Art True-Crime-Case, aufgrund im Gedächtnis gebliebener ähnlicher Fälle, etwa in Österreich: Jungmädchen-Entführung und langjährige Gefangenschaft mit Vergewaltigung und Geburten. Diese Story ist jedoch offenbar komplett erfunden, mit spannendem wie nachdenklich machendem Geschehen auf annähernd 400 Seiten.
PTBS oder Autismus?
Weder noch, genauso wenig wie „zurück geblieben“ im Sinne einer geistigen Behinderung, wenn sich manche Passagen der Story auch so „anfühlen“ – also vielleicht doch etwas von all dem? Vielleicht „sozial defizitär“, wie sie das selbst nennt, aufgenommen von ihrem -Vater… Nun, „als ihr verwitweter Adoptiv-Vater kurz vor ihrem 43. Geburtstag stirbt, nimmt Sally Diamond ihn beim Wort: Sie versucht, ihn mit dem Müll zu verbrennen. So wie er es ihr gesagt hat. Ein Fehler, denn nun interessieren sich plötzlich alle für die seltsame Frau, die sich gerne taub stellt, wenn sie unter Menschen geht und am liebsten für sich bleibt: Polizei, Nachbarn, Medien – und eine unheimliche Stimme aus einer Vergangenheit, an die sie sich nicht erinnert. Während sie nach und nach von den schrecklichen Geheimnissen ihrer frühen Kindheit erfährt, nähert sich Sally zum ersten Mal vorsichtig der Welt. Sie übt sich in Vertrauen, schließt Freundschaften, trifft große Entscheidungen und lernt, dass Menschen nicht immer meinen, was sie sagen und nicht immer sind, was sie vorgeben zu sein. Doch wer ist der mysteriöse Fremde, der so viel über sie zu wissen scheint und ihr Nachrichten von der anderen Seite des Globus schickt? Und wieso ist der neue Nachbar so besessen von ihr? Seltsame Sally Diamond ist ein Psychothriller vom Feinsten, ein Buch das unter die Haut geht, düster, hochspannend und ergreifend. Vor allem aber mit einer Hauptfigur, die so entwaffnend ehrlich, liebenswert und einzigartig ist, dass man sie nicht vergisst.“ Mit vertiefenden Einblicken in ihre Psyche wie die ihres Psychiater-Ziehvaters aus Sicht anderer Personen – und aus seiner eigenen via hinterlassenen Briefen, die Sally allerdings erst verspätet zur Kenntnis nehmen kann, weil er überraschend wenig empathisch die Kuverts zu ungenau beschriftet hatte (S. 60ff. usw.). Sally dagegen versteht das Konzept von Empathie immer besser, reflektiert es und wendet es an, bewusst (S. 230f.).
Dann weitet sich die Perspektive
…im zweiten Teil, jedenfalls für die Leserschaft: Das aktuelle Geschehen wechselt (jeweils in Ich-Erzählung) mit dem Erleben eines (Spoiler-Alert!) Bruders, von dem weder Sally noch ihre Eltern wussten: Seine Sicht der Dinge entwickelt sich über mehrere Jahrzehnte bis zur Gegenwart – und (erwartbar) kommt es irgendwann zum Aufeinandertreffen. Doch inzwischen entwickelt Sally ihre sozialen Kompetenz weiter, wenn auch bewusst eingesetzt: Wird es also ein happy-ending geben? Vieles scheint darauf hinzudeuten… Jedenfalls entwickelt sich eine ungeheuerliche Geschichte von Missbrauch und Manipulation: Sallys Bruder hält der Vater von Kontakten ab, indem er ihm eine seltene Krankheit andichtet (S. 130 usw. usf.)… Gestörte Kommunikation und Musik, auch ein interessantes Thema – Sally kann sich durch ihr Klavier-Spielen beruhigen (S. 166 z.B.) und hat in Schulzeiten mit ihrem Spiel auch der einzigen Freundin dort geholfen, die stark gestottert hat… Apropos: Nature or nurture, also Vererbung oder Erziehung, was hat mehr Einfluss – das erweist sich schließlich auch bei Musik, vom übergriffigen Vater kommend und den Bruder überspringend, zu dessen Tochter. Genauso leider auch des Vaters Verhalten, wie sich beim Bruder zeigt, soifz… Ein exzellent geschriebener – nun, eigentlich gar Wissenschafts-Thriller, will ich meinen! Fazit: lesen, sowas von… HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de