Milieus in Bewegung
Autor | Carsten Wippermann |
Verlag | echter |
ISBN | 978-3-429-03408-5 |
Zwar untertitelt der umfangreiche Band „Werte, Sinn, Religion und Ästhetik in Deutschland“, bringt allerdings eine generelle veränderte Perspektive gegenüber den SINUS-Milieus, hin schließlich hierzu: „Das Gesellschaftsmodell der DELTA-Milieus als Grundlage für die soziale, politische, kirchliche und kommerzielle Arbeit“. Was deutlich macht, dass „Religion / kirchlich“ wirklich nur ein Teilaspekt der Betrachtung ist. Wenn auch bei amazon übrigens als weiterer Untertitel „Forschungsergebnisse für die pastorale und soziale Arbeit“ erscheint … Der Autor war selbst ein Jahrzent lang leitend bei SINUS tätig und distanziert sich nun, weil jene Milieus gesellschaftliche Veränderungen zu wenig berücksichtigen und zugleich zu Auftraggeber-bezogene Ergebnisse brächten: Ein generelles Problem bei Marktforschung? (Ausführlich dargestellt und begründet in einem „Exkurs: Warum keine Sinus-Milieus mehr“, S. 211ff.) Wie auch immer, eine aktuelle Wertestudie zeige auf, „welch unterschiedliche Bedeutung so starke Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, Leistung, Eigenverantwortung oder Solidarität in den verschiedenen sozialen Milieus haben. Ein Muss für alle, die auf Grundlage der Milieutheorie und praktischer Milieueinblicke im kirchlichen und sozialen Raum arbeiten.“ (U4-Text) Tatsächlich liefert Wippermann diesen Fokus in einem eigenen Einführungskapitel „2: Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus 2005“ (S. 12ff.). Erfreulich, dass er damit zugleich eine Hinführung zum Milieu-Konzept als solchem bietet und einige wichtige Aspekte für die Interpretation liefert: „Es gibt graduelle Übergänge und subkulturelle Kohärenz zwischen den Milieus. Jedes Milieu ist ein selbstreferenzielles System mit eigenen Codes und Programmen. Jedes Milieu ist zwar umweltoffen, aber semantisch eine eigenständige Welt … Ein wirkliches wechselseitiges Verstehen zwischen Menschen aus verschiedenen Milieus ist nicht oder nur begrenzt möglich.“ (S. 14) Und das eben jenseits klassischer Zielgruppen-Definition wie Geschlecht, Alter, Bildung, Einkommen usw., die nur bedingt Aussagen über das Verhalten der jeweiligen Person aussagen, das ist die Idee! Neben kritischen Erkenntnissen speziell für die katholische Kirche in Deutschland sind diese Ergebnisse generell interessant und relevant, etwa auch für Themen der Weiterbildung: Was bewegt Menschen eigentlich, was motiviert sie, auch beruflich? „Die Menschen – ob in der Kirche oder außerhalb – sind aktiv auf der Suche nach Sinn, aber sie haben keinen Mangel an Sinn: Weder lässt sich ein Sinndefizit noch eine Sinnsättigung feststellen … Von geringerer Bedeutung ist das Bedürfnis nach einer übergeordneten, die ganze Lebenszeit umfassenden und das eigene Leben überdauernden jenseitigen Sinninstanz.“ (S. 18) Die metaphorisch gemeinten Milieu-Etiketten sind bei DELTA ähnlich denen bei SINUS, mit kleineren Abweichungen, etwa Expeditive statt Experimentalisten. Interessant an seinem Ansatz ist vor allem der Blick auf „Pfade von Milieumobilität im Lebensverlauf“ (S. 89 Grafik), d.h. wie aus der Sozialforschung ja lange bekannt, verändern Menschen ihre Einstellung – bestätigt nun inzwischen auch durch (Ableitungen aus) Hirnforschung, siehe die Ansätze von Häusel, der das Limbische System fokussiert (Stimulanz – Dominanz – Balance, von mir mehrfach rezensiert). Und schließlich der Versuch, durch feinere Differenzierung näher an die Menschen heran zu kommen, siehe „Subdifferenzierung der Milieulandschaft“ (S. 169ff.), etwa der Traditionellen: Traditionsverhaftete, Zurückgezogene Traditionelle, Junge Traditionsbewusste – da drückt sich schon was aus, oder? – Fazit: Sehr interessante Ansätze, ob Leser nun schon mehr oder weniger Erfahrung und Kenntnis zum Milieu-Ansatz (von SINUS) hat oder nicht.