Meute mit Meinung
Autor | Arno Frank |
Verlag | kein und aber |
ISBN | 978 3 0369 5654 1 |
Der Kulturjournalist und Essayist Arno Frank hat ein „Pamphlet“ geschrieben, eine kurze Schrift, die sich in einem Atemzug lesen lässt und dennoch ohne Hast und mit Gelassenheit – jedenfalls jene Leser, die a) sich Bereitschaft und Fähigkeit bewahrt haben, „Schwarm“, „Meute“, „Masse“, „Netzeuphoriker“ handlungs- und gesellschaftskritisch zu betrachten und b), eine pointierte Sprache mitsamt Kurzzitaten von Philosophen und anderen intellektuellen Geistern sowie unverbrauchten Metaphern und mutigen Analogien, etwa im Kontext der „Schwarmintelligenz“ zu Maos Kulturrevolution als der „letzten großen des 20. Jahrhunderts“; analog ist „die schleichende digitale Einebnung des Individuums zugunsten einer kollektiven Intelligenz die erste des 21. Jahrhunderts. Ihr Motor ist die Ideologie der Schwarmintelligenz.“, S. 54).
Der Autor spricht aus der Sicht des Journalisten und widmet sich zunächst den Phänomenen, die Journalisten im digitalen Zeitalter partizipatorischer Totalität erfahren, meist: erleiden – insofern, als es in den Leserreaktionen selten um argumentative Auseinandersetzung geht als um – gekleidet die die Kombination von Nicht- oder Wenig-Wissen und der Selbsterhöhung mit dem erhobenen Zeigefinger, als Leser „ernst genommen“ zu werden und es im Zweifel besser zu wissen – Meinung(säußerung, -mache), Affekt, selbstbezogene Rhetorik, ungeduldig-spontane Flätigkeiten bis hin zur Initiierung von Hetzjagden.
Arno Frank erweitert seine Reflexionen entlang seiner zentralen Begriffe, insbesondere durch Differenzierung (Konzepte und Phänomenales vor allem zu Polen des Individuellen und der Abweichung, also zu Masse, Meute, Mob, Schwarm, auch zu Meinung), durch das Einflechten von Fragen an die Demokratiefähigkeit, durch das Anleuchten spezieller Aspekte und Auswirkungen oder Eigenheiten mediatisierter Öffentlichkeit, etwa Shitstorm und Anonymität. Der Autor spannt einen Bogen bis zur, insbesondere von Jaron Lanier und Evgeny Morozov neuerdings angeregten Diskussion, was Internet, virtuelle Lebensäußerungen und Kapitalismus miteinander zu tun haben.
Wer eine einseitige, larmoyante, undialektische Streitschrift vermutet, liegt falsch. In klugen wie zugespitzten Ausführungen erwägt der Autor in provokativer Tonlage manches Pro und Contra, formuliert Bedingungen für die Möglichkeit und die Nützlichkeit eines von ihm präferierten Zu- oder Umstandes, Tuns und Unterlassens im Horizont seiner Präferenz gesellschaftlichen Zusammenlebens und Kommunizierens. Zuweilen liest sich das Büchlein wie ein Psycho- oder Soziogramm von Internet-Menschen und digitalen Kollektiven, ausgehend von scheinbar vertrauten Begriffen.
Die kurze Schrift reiht sich ein in die bedauerlicher Weise noch immer seltenen Essays, die kompetent theoretisch (s.o., auch: Martha Nussbaum), empirisch fundiert (Sherry Turkle) und kritisch diskutieren, worauf sich die Menschen eingelassen haben, als sie das Web 2.0 zu feiern begannen.
Als P.S.: Die kurze Bibliographie, zumal ohne Jahresangaben des Erscheinens des jeweiligen Buches oder Aufsatzes, ist leider unvollständig, da nicht alle im Text erwähnten Zitate, Paraphrasen, Hinweisen mit ihrer Quelle auftauchen. Und, werter Arno Frank, als wohlgesonnener Leser möchte ich die Bezüge in den Diskurs einordnen können, ohne erst nachschlagen zu müssen.
Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de