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Kompetenzen als Bildung?

Autor Mugerauer, Roland
Verlag Tectum
ISBN 978 3 8288 2865 0

Bildung – Wissen, Verstehen – Lernen sowie der jeweilige „Verwertungszusammenhang“ (Funktion, Zweck, Ziel) sind die Konzepte, um den die Ausführungen des Pädagogen (Dozent an Universitäten, Forscher, Lehrer, Studienrat) Roland Mugerauer kreisen. Und zwar auf erfrischend eigenwillig-engagierte und problembewusst-skeptische Art.

 

Die Beiträge, als Essays lesbar, widmen sich zwei Thesen:

Moderne Gesellschaften (unter anderem die Bundesrepublik Deutschland) wandeln sich „zu postindustriellen „Wissensgesellschaften“, die durch die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien bestimmt sind (11)“ Allerdings qualifiziert der Autor diese „Wissensgesellschaften“ neu: als „Gesellschaften unqualifizierten Meinens“. Diese erste starke These wird kenntnisreich belegt und als Konzept vom „informationell“ bzw. „positionell-affirmativen“, „positionell-behauptenden“, „feststellend-positionellen“ Wissen (68ff) ausgeführt. Dieses Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass es als Wissen (verinnerlichtes, reflektiertes Verfügen-Können) eben nicht Wissen ist, sondern nur „Wissensstatus beanspruchendes „Wissen““ (70). Als ideologische Rahmung dienen zum einen der Neoliberalismus der Chicagoer Schule (15ff), die der Autor als Hauptverursacher der Ökonomisierung von Schule, Curricula – kurz, der Verkürzung von „Bildung“ auf Kompetenzerwerb im Zeichen von unmittelbaren Verwertungsinteressen sieht und die ihrerseits in eine unreflektierte, jedenfalls nicht problematisch-skeptische und daher nicht intellektuell mündige Aneignung und Nutzung von Wissen stehen. Der philosophisch-pädagogische Teil der Rahmung liegt in dem Ideal des Typus vom „problematisch-vernünftig Gebildeten mit skeptisch-kritischer Problemkompetenz“ – durchaus im Anschluss an Kant und Goethe und weiteren, im Anhang kritisch angeführter Philosophen (68ff, 197ff).

 

Um die Ausführungen nachvollziehen und problematisch-skeptisch würden zu können, sei dem Leser unbedingt angeraten, die Fußnoten/ Anmerkungen aufmerksam zu lesen. In ihnen zitiert und argumentiert der Autor sowohl Personen und Quellen, die seine Thesen stützen als auch solche, die ihr widersprechen. Außerdem liefern die Anmerkungen Textmaterial aus offiziellen Quellen, die die Beurteilung als „technokratisch“, „unreflektiert“ und opportunistisch verständlich machen. Der Leser erkennt rasch die Relevanz der Anmerkungen, da sie zum Teil mehr Seitenplatz als der laufende Text beanspruchen. (Der Verlag hätte diese wichtigen Ausführungen durchaus als Exkurse oder ähnlich im Text unterbringen können. Das hätte auch dem Schriftbild gut getan.)

 

Erste und zweite These sind ineinander verschlungen: „Man kann von einer Totalisierung (neoliberal-)ökonomischer Rationalität“ sprechen (15), die Konzeption und Praxis von Schule durchdringen: „Die heranwachsenden Individuen sollen zu einem „unternehmerischen“ Seblstverstänndis geführt werden“ (39); Rede vom „lebenslangen Lernen“ entpuppt sich als „Formierung („Bildung) in Richtung funktionalisitscher Systemanpassungskompetenz, eine Anpassung, die mittels der schulisch erworbenen bildung „kreativ“, nämlich als „learning on demand“ das selbstgesteuert als Selbstanpassung vollzogen wird“, anstatt zum Denken erst einmal zu befähigen (38).

 

Mit Furor streitet Roland Mugerauer gegen einen Wissens- und Bildungsbegriff und eine Praxis, die sich auf a) hohle Methode bezieht (Lernen lernen. 31ff), b) dem unmittelbaren Verwerten im Dienst des Überlebens, daher der Affirmation und Nutzung verschreiben und daher Wissen und Bildung generieren, die oberflächlich, punktuell, rein operationalistisch, als Wissen-Verstehen nicht verankert für problem-skeptische Denkvorgänge verfügbar sind (z.B. 30ff), c) davon ausgehen, dass Wissensaneignung und Bildung ohne tieferes Verstehen (samt Kontextualisierung und eigenständiger Denkoperationen mit dem Material) genügen, um menschenwürdig leben zu können (z.B. 31) – nicht nur als abstrakte Möglichkeit, sondern als Option. Diese Option – sich äußernd in der problem-skeptischen oder „rückhaltlos-skeptisch problemerschlossenen Vernünftigkeit“ -– wird, so zeigt der Autor mit zahlreichen Belegen (und Überlegungen), systematisch verhindert.

 

Lernen, Wissen, Bildung sollten im Zeichen von intellektueller Mündigkeit, sprich: Wahlfreiheit zum individuellen Lebensentwurf (ideell und praktisch) befähigen. Essentiell dafür sind das Bewusstsein, dass es materiellen Wissens bedarf, sowie Wissen und Bildung (als Vorgänge und Resultate von Aneignung) als Vermögen, um zu dem was ist, und dem, was sein könnte, kritisch-skeptisch (fundiert be-fragend) – nein, nicht Stellung zu beziehen im Sinn eines eindeutigen und oberflächlichen (meist affirmativen) „Ich weiß“,“ sondern Stellung zu beziehen mit der Haltung und Prozedur des philosophischen Skeptikers (Sokrates als „Rollenmodell“).

 

Dem Leser sei empfohlen, mögliche aversive Impulse gegen die ideologische Einseitigkeit und gegen den zunehmenden Furor, der auch die Sprache und den Satzbau prägt, zu überwinden. (Freundlicherweise weist der Autor selbst darauf hin, allerdings erst bei seinen Ausführungen zur seinem Bildungsbegriff und –konzept.) Es lohnt sich, den Gedanken, Diskussionen und Belegen zu folgen und sich ihnen mit- und nachdenkend zu widmen, trotz verbaler Redundanzen, trotz Wortgebilden, aus denen die empfundene Empörung des Autors gleichermaßen herausspringt, trotz eines Satzbaus, der vor lauter Aufzählungen und gedanklichen Einschüben (als wolle der Autor noch jede Abzweigung in einem Satz unterbringen) das Mitverfolgen des roten Fadens zuweilen erschweren. (Auch hier sei an den Verlag adressiert: Das Schriftbild unterstreicht diese Unruhe, den Leser zuweilen zu hetzen scheint und erschöpft. Diverse (und zuweilen lange) Passagen sind fett gedruckt, Anmerkungen sind (trotz ihres erheblichen Umfangs) klein gedruckt; Fett-, Kursiv-, Normalschrift erscheinen auf einer Seite und dergleichen. Bei einer Neuauflage täte der Verlag dem Autor etwas Gutes, diese Unruhe zu sortieren und zu beseitigen.)

 

Der Befund ist unbestreitbar, nämlich: Bildung wird reduziert auf Verwertbarkeit und Anpassung(skompetenzen); unbestreitbar auch die gefahrvollen gesellschaftlichen Auswirkungen (selbst gemessen am „neoliberalen“ Imperativ), wenn diesem Pfad durch Bildungsinstitutionen und –programme weiterhin gefolgt wird; unbestreitbar auch die Verarmung von Optionen, die Menschen haben, um ihr Leben zu gestalten. (Nimmt man noch die Anzeichen infolge der Digitalisierung von Wirklichkeit(szugängen) hinzu, dramatisiert sich der Befund.) Und die Idee, Bildung auf die Bereitschaft und Fähigkeit zu problembezogener, kritischer, materiell genährter Skepsis zulaufen zu lassen und zum Referenzpunkt zu machen – diese Idee und deren Realisierung sind Voraussetzungen für das, was früher einmal „Emanzipation“ aus Unmündigkeit genannt wurde und heute mit Begriffen von „Selbstkompetenz“, „Selbstorganisation“ und „Autonomie“, allerdings unter dem Vorzeichen von fundierter Wahlfreiheit, bezeichnet werden kann.

 

Professionelle, die mit Lernen, Lehren, Bilden zu tun haben, können das Buch als Streitschrift lesen, als Katalysator nehmen, um sich in eine im Gang befindliche Kontroverse einzuschalten und/oder die eigene Lehrtätigkeit problembezogen-skeptisch-vernünftig zu überprüfen

Dr. Regina Mahlmann