Jahrmarkt der Eitelkeit
Autor | William Makepeace Thackeray |
Verlag | reclam |
ISBN | 978-3-1501-14339 |
Aus der Versenkung hervorgeholt und ins helle Tageslicht gestellt. Es ist, will man einigen Rezensenten folgen, der neuen Übersetzung des gesellschaftssatirischen Romans „Jahrmarkt der Eitelkeit“ und damit der Sprach- und Stilqualifikation von Christan Oeser zu verdanken, dass das Buch von William M. Thackeray, Mitte des 19. Jahrhunderts als Serie von Kapiteln erschienen und vielfach übersetzt, wieder an die Oberfläche gehoben wird und die Aufmerksamkeit erhält, die es als Klassiker verdient.
Zum Klassiker macht dieses umfänglich Werk von 896 Seiten (plus Anmerkungen) zunächst das Thema, dass mehr oder weniger manifest menschliches Zusammenleben begleitet: Wo Eitelkeit als Haltung, als Habitus, als Lebensweise ausgeprägt ist, dominieren Selbstverliebtheit bis hin zu Selbstsucht, dominieren unterschiedliche Facetten von Selbstbezüglichkeit mit der Intention, das persönliche Gut- und Wohlbefinden, materiell wie immateriell, zu steigern bzw. zu bewahren. Ich-Kultur, Empfindsamkeitsrhetorik, Gefühlsverherrlichung und Emotionsgesteuertheit (inklusiv des je zugehörigen Moralismus`), ihre Ausprägungen im Individuellen und Kollektiven, im Privaten wie im Beruflichen, in Milieus und Gesellschaft. William M. Thackeray breitet dieses Panorama sowohl anhand persönlicher Werdegänge und Schilderungen übergeordneter Kontexte und direkter Adressierung des Lesers aus.
Vertraut aktuell klingt auch dies: Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit werden neben den augenscheinlichen beziehungsweise scheinbaren sozioökonomischen Verhältnissen des aufstrebenden Bürgertums Äußerlichkeiten in einer Weise bedeutsam, die die Zughörigkeit zum Bürgertum bzw. zu Milieus innerhalb des Bürgertums zweifelfrei erkennbar machen. William M. Thackeray führt unter anderem durch den Gegensatz der vermeintlichen Freundinnen Amelia Sedley und Rebecca (Becky) Sharp, der Hauptfigur des Romans, und deren wechselnde Lebensumstände genüsslich und wortreich vor Augen, wie sich die Herkunft aus und Zugehörigkeit zu bestimmten Lebensumwelten auf Geist, Seele, Verstand und Verhalten sowie Moralität auswirken.
Dass dazu weitere Äußerlichkeiten wie Kleidung und Accessoires, thematische Interessen und sprachliche Formulierung etc. gehören, haben – wenn auch mit grundverschiedenen Erkenntnisinteressen – Norbert Elias und Pierre Bourdieu herausgearbeitet.
Wer sich auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit bewegt, weiß das häufig nicht, aus Mangel an Reflexion. Wer jedoch, wie Becky Sharp, von extern hineinwandern und aufwärtssteigen möchte, muss um die Regeln wissen, sei es, um ihnen bewusst zu folgen oder um gegen sie zu verstoßen. Becky Sharp eignet sich die Kenntnis in der Schule für höhere Töchter an, die sie dank eines Stipendiums besuchen kann. Ihre Haltung: Diese Ausbildung bietet ihr sowohl Instrumentarium als auch einen Instrumentenkasten, um durch aufmerksames Beobachten und bewussten Gebrauch von Regeln und deren Manifestationen in Sprache und Deutungsfolien, in Gestik und Verhalten sich sowohl anzupassen (Mimikry) als auch zu konfrontieren und abzuweichen (Provokation, Devianz) – alles, um ihre Interessen zu verwirklichen. Becky will „nach oben“.
Wer von außen kommt und reüssieren will, muss – neben naiven Seelen, die einen unbedingt unterstützten wie Amelia und andere „glückliche Zufälle“ – eine besondere und eine Geschichte ausweisen, die beim Adressaten konkrete (erwünschte) Reaktionen auslöst. Wie heute erscheint die Opfersein-Behauptung ein sicherer Weg dorthin. Becky Sharp gelingt es denn auch, Wohlwollen zu erzeugen, dadurch, dass sie gleichsam mantraaartig wiederholt, sie sei ein armes, verlassenes Mädchen, Halbwaise und vom mittellosen Vater (Künstler) erzogen, Entbehrungen erleidend und aus anderen Gründen bemitleidenswert. Sie schafft es, diese (zuweilen etwas ermüdend zu lesenden Tiraden) vermeintliche Schwäche in eine Stärke umzuwandeln, die ihr strategisch und taktisch Machtausübung erlaubt, indem sie Beziehungen unter diesem Vorzeichen ihren Interessen gemäß gestaltet und sich entsprechend verhält. Freundlich und liebenswürdig hier, provokativ dort, Ohnmacht simulierend hier, Macht demonstrieren dort etc..
Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten hat Erfolg, wer sowohl die Regeln formaler Korrektheit als auch jene akzeptabler Provokation beherrscht, wer sich im Kodex geltender Werte interessenbezogen inszenieren kann, verbal, nonverbal, behavioral. (Die Presse ist gefüllt von Beispielen.)
Die Antagonistin ist Amelia Sedley, die das Gegenteil verkörpert. Beide lernen sich in der Schule kennen, und da Amelia die Güte und Naivität in persona ist, die nirgends Hinterlist vermutet und stets hilfsbereit, ist sie Becky Sharp zugeneigt und behandelt sie als enge Freundin. Nach Beendigung der Ausbildung lädt sie Rebecca zu sich nach Hause ein, ein bürgerlicher Haushalt gehobenen Niveaus – und damit beginnt für beide jungen Frauen ein wechselvolles Leben, zuweilen zusammen, längere Zeit getrennt, um schließlich, verändert und verwitwet, wieder aufeinander zu treffen.
Weitere Analogien und Vertrautheiten mit Gegenwärtigem findet jeder Leser mühelos und en passant. Zuweilen ist Geduld gefragt, weil Sprachduktus und zahlreiche Wiederholungen von Sachverhalten in Dialogen ermüdend wirken können. Durchhalten lohnt indes, um die ironischen, sarkastischen, die vermeintlich erklärenden Hinweise des Erzählers und Autors, einschließlich seiner Sympathien zu Personen und Geschehen, zu genießen, einschließlich zudem seiner Ratschläge, wie der Leser denken und fühlen sollte, wenn dies oder jenes der Fall sei. Außerdem sollte man sich die satirischen und parodistischen Zeichnungen von Figuren und in Dialogen nicht entgehen lassen; amüsant und lehrreich zugleich für jene, die sich für Mentalitäten und ihre Niederschläge im täglichen und gesellschaftlichen Leben interessieren.
Selbst der historische Hintergrund erscheint thematisch aktuell. Es sind die napoleonischen Kriege, die ihre Wirkungen im gesellschaftlichen und privaten Umfeld in einer Weise zeitigen, die Verunsicherung, zunehmende Unruhe, subjektiv wie kollektiv, wachsende Unübersichtlichkeit und Ratlosigkeit fördern. Becky Sharp, die Aufsteigerin, inzwischen gut situiert durch Heirat, gelingt es, in diesem Durcheinander ihr Vermögen zu begründen. Sie ist smart (klug und hinterlistig), mit hoher Ausprägung von Selbstkontrolle, die sie taktisch und strategisch gekonnt einsetzt. Diese Cleverness und kontrollierte Empathie hat sie nicht zuletzt ihrem Vater bzw. den Personen aus dessen Künstlermilieu zu verdanken, ein Moment, das der Autor öfter erwähnt, und ein Hinweis auf einen Aspekt von Resilienz, der im vermeintlich Nachteiligen Möglichkeiten für Wachstum, Entwicklung, Kompetenzgewinn legt.
Die Tonlage ist durchgängig plauderhaft und heiter, pointiert-charmant und intelligent-ironisch. William Makepeace Thackeray erinnert uns durch Einwürfe, Kapiteleinführung oder Zwischendurchbemerkungen immer wieder daran, was es bedeutet, sich auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit zu bewegen: Schein ist Sein, und wehe, wenn der Schein trügt…