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Jacques der Fatalist und sein Herr

Autor Denis Diderot
Verlag Berlin
ISBN 978 3 88221 058 3

Vielleicht entschließt sich der Leser dieses von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzten und mit einem Nachwort bereicherten Romans dazu, während des Lesens, zu eben diesem Nachwort und den „fünf Unterhaltungen“ von Hans Magnus Enzensberger zu springen – auf der Suche nach Orientierung angesichts der Vielzahl an Personen (97, so „Der Andere“ in der ersten, sich der Topologie widmenden Unterhaltung) und ihres „Stimmengewirrs“ (ebd.) sowie an der Vielzahl an Episoden, die scheinbar unverbunden einander wechseln und innerhalb derer der Erzähler und der Autor sich unvermittelt an den Leser wenden, ihm Interessen am Fortgang der vermeintlichen Hauptgeschichte zu unterstellen, diese angenommenen Bedürfnisse zu erfüllen oder auch nicht oder ihn zu befragen.

Oder der Leser springt nicht und erfreut sich zunächst an den Inhalten, an den philosophischen, theologischen und existenziellen Fragen, die Jacques der Fatalist (denn er glaubt, dass alles Geschehen „dort oben geschrieben“ steht und es kein Entrinnen gibt – um gleichzeitig frei zu handeln, es sei denn, sein Pferd entwickelt einen eigenen Willen und folgt diesem und nicht dem seines Herrn) im Gespräch mit seinem Herrn entfaltet oder andeutet. Diese Lesedimension mag den Leser zudem erfreuen mit mehr oder weniger ironischen, humorvollen Tonlagen, Thesen, Fragen, mit denen der Erzähler oder auch der Autor den Leser ins Geschehen einbezieht. In den vollen Genuss des Verstehens von Andeutungen, Anspielungen, Bezügen gelangt der Leser auf dieser Ebene allerdings nur dann, wenn er entweder viel Wissen aus dem (v.a. französischem) 18. Jahrhundert abrufbar hat, mit philosophischen Köpfen aus der Antike und aus dem Jahrhundert Diderots etwas vertraut ist oder / und den Fußnoten folgt.

Sowohl die fünf dialogisch gehaltenen Unterhaltungen Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 2004 als auch das Nachwort eröffnen den an literarischen Formen, Figuren, an dem Neuartigen der Romankonstruktion Interessierten ein erweitertes Verständnis von Diderots Leistungen des Romans mit seinen verschiedenen Erzählebenen, der Intertextualität, des Einbezugs des Lesers, der Collage unterschiedlicher Textgattungen und Tonlagen, samt der Allegorien und Metaphern.

Ein Roman, der mehr als ein Mal gelesen werden will, um ihn in seiner Komplexität und thematischen Vielfalt zu verstehen. Und deshalb ein Roman, dessen Lektüre neben innerer Ruhe und Bereitschaft, sich darauf einzulassen, dass nicht eine Geschichte linear von Anfang bis Ende erzählt wird, zudem das erfordert, was der Begriff Muße gut beschreibt

Hanspeter Reiter, www.dialogprofi.de

Hanspeter Reiter