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Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?

Autor Jürgen Kaube
Verlag Rowohlt
ISBN 978-3-737-10053-3

Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist dem an geistes- und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen interessierten Leser bestens nicht nur durch Beiträge in den Rubriken Bildung und Feuilleton bekannt, sondern auch durch Bücher, stets mit kritisch-konstruktiver Haltung, gründlich recherchiert und mit dem Interesse an grundsätzlichen Fragen und Aspekten. So auch in diesem Buch mit dem provokanten Titel als Frage, die zu bejahen er sich nicht scheut. Und diese Affirmation leitet er kenntnisreich, mit äußerst skeptischem Blick auf empirische Bildungsforschung (Pisa & Co, ideologische Festlegungen in Forschungsdesign etc.), mit Belegen und vor allem mit scharfsinnigen Deutungen und Begründungen, Vorschlägen für Alternativen und nachvollziehbaren Empfehlungen her. Hier vollzieht sich wieder einmal vorbildhaft, wie Empörung oder Entsetzen über den Status Quo – um mit Freud zu sprechen – sublimiert, in nüchterne, differenzierte, sachlich fokussierte Gedanken gewendet werden.

Jürgen Kaube fragt nach dem Sinn, der Funktion von Schule, Unterricht – nicht aus der so genannten und bei Pädagogen beliebten Kindzentrierung, die Schülern Fähigkeiten und Fertigkeiten unterstellt, deren methodische Unterrichtungsfolgen („selbstorganisiertes Lernen“) eher den Lehrkräften und bildungspolitischen Imagebroschüren mit Alibifunktion dienen, ebenso wie die Ausflüsse in der Veränderung der Rolle der Lehrer (Mentor, Lernbegleiter, Moderator), sondern aus der Perspektive des Nutzens für Schüler und der Unterstützung bei deren Menschwerdung. Menschwerdung im Sinn von Erwachsenwerden, und dies im Kantianischen Sinn des Verstandesgebrauchs.

Der Autor widerspricht zudem der Sinnzuschreibung, die aus Kindern und Jugendlichen primär wertvolle Konsumenten und Prduzenten machen will, die Schüler in ihrer Individualität homogenisieren will, die den Lernenden zumutet, etwas zu können, das sie noch nicht können können, nicht zuletzt deshalb, weil Schule das Elementare, das Inhaltliche, das Grundlegende zu lehren gleichsam verweigert und nicht versteht, dass es konkretes Wissen braucht, um denken und selbstorganisiert lernen zu können. Kindzentrierung und Gleichmachereiversuche und andere ideologische Festlegungen haben methodische Experimente und Lehrerrollen zum Schaden von Schülern im Gefolge und führen zum beklagenswerten Status Quo, einschließlich Niveau- und Notendurchschnittsenkung, illiterate Schulabgänger und überforderte, oft auch fachunkundige, verunsicherte Lehrkräfte.

Jürgen Kaube spricht einer Schule das Wort, die die Funktion als geschützter Raum versteht und bejaht, die ihren erzieherischen Kern aus dem Dunkel zieht und sich an dem orientiert, was Kinder und Jugendliche an Grundlagen benötigen sowie Ausschau nach motivierenden, interessierenden und gleichzeitig Disziplin und Konzentration, ja auch Überwindung fordernden und generationell, entwicklungspsychologisch angepassten Unterrichtsthemen (!) und deren Aufbereitung hält und sich keiner einzigen Methode verschreibt. Im Zentrum steht das das Denken lernen, die Freude am Denken in all den Facetten, die Denken hat, und damit der Fokus auf Elementarem und Fundamentalem. im Vordergrund einer Schule, die schlauer ist als die Schüler.

Der Autor bereitet seine Argumentation vor, indem er empirische Befunde analysiert, Lehrpläne ausschnitthaft betrachtet, ministerielle Texte aus verschiedenen Bundesländern untersucht und dergleichen und skeptische, kritische, zuweilen auch sarkastische Fragen formuliert. Immer wieder nimmt Jürgen Kaube den ideologischen Bias aufs Korn, der sich in empirischer Bildungsforschung, in Studien zu Schülerleistungen, in Vergleichen und Befunden zu Ungleichheit, zu behaupteten Kausalitäten und dem Plädoyer zeigt, Schule müsse sozialpolitische Funktionen wahrnehmen – und Lehrer folglich Widersprüchliches leisten: individualisierte Förderung von verschiedenen Individuen und Beseitigung eben dieser Unterschiede – vor dem Horizont der Forderung nach Gleichheit, also Vereinheitlichung.

Wie der Autor analysiert, schlussfolgert und seine eigene Haltung und Fürsprache herleitet und exemplarisch vorführt, gleicht der Selbstanwendung dessen, wofür er plädiert, und dies in einer brillanten Sprache. Überlegungen und Stil sind purer Genuss.

Dieses Buch sei nicht nur Lehrkräften aus Vorschule und Schule dringend angeraten, sondern auch Eltern, Weiterbildnern, Politikern und Quereinsteigern, also Nicht-Pädagogen. Dese könnten sogar besonders profitieren, weil sie am ehesten (im Vergleich zu Lehrkräften) offen für phantasievolle und fesselnde Unterrichtsweisen sein können. Was, so Jürgen Kaube sinngemäß, kannst du als Experte den Schülern aus deinem Fachgebiet als brennend interessant darstellen? Was hat dich dazu gebracht, dieses Gebiet zu deinem Beruf, zu deinem Schwerpunkt zu machen und Expertentum darin zu entwickeln? Diese Fragestellung, so der Autor, können zu wenig Lehrer beantworten, gar darstellen und transportieren. Und erleiden schon deshalb Autoritätsverlust. Quereinsteige mögen zudem eher den Mut (oder aus mangelnder Kenntnis) haben, von vorgegebenen didaktischen Entwürfen abzuweichen und haben vielleicht eher die Chance, Schüler mitzureißen. Kurz und knapp: Dieses Buch ist Pflichtlektüre sowohl für Fachleute als auch für Bildungsbürger. Dr. Regina Mahlmann www.dr-mahlmann.de.
MDR KULTUR

Regina Mahlmann