Ihr Königreich

„Wie weit würdest du für deinen Bruder gehen?“ stellt sich dem Leser die Frage als Überschrift der Rückseite… Sehr passend, geht es doch genau darum: Familien-Verhältnisse, Handeln von und zwischen Brüdern – und dazwischen: eine Frau.

Mancher Mord muss sein
So stellt sich das jedenfalls recht bald heraus – oder besser: schält sich heraus, aus dem diffusen Geschehen. Was in der Vergangenheit begraben scheint, entwickelt sich zombiehaft zu getriebenem Tun-Müssen, was a bissal an die bekannte Highsmith-Figur des Tom Ripley erinnern mag… Hierum geht es vordergründig: „Als die Polizei erneut in dem ungelösten Fall ihres verschwundenen früheren Chefs ermittelt, ist der Automechaniker Roy alarmiert. Die kürzliche Rückkehr seines Bruders Carl in die kleine Stadt Os bringt anscheinend Unglück. Auch dass dessen Frau genau Roys Typ ist macht ihn nervös. Carl hingegen ist voll großer Pläne und verspricht, ganz Os reich zu machen. Doch plötzlich kursieren im Ort Gerüchte und Verdächtigungen zum Unfalltod ihrer Eltern. Roy hat seinen kleinen Bruder immer beschützt, aber jetzt stehen sie sich als Rivalen gegenüber.“ Ein psychologisch geschickt konstruiertes Geschehen entwickelt sich, das den Leser auf verschiedene Spuren lenkt, in die Irre führt. Und dennoch schwingt immer schon mal mit, was seinerzeit geschehen sein mag – und was seine Schatten auch auf die Gegenwart wirft… Einige Morde geschehen – oder sind´s doch bloß Unfälle, verbunden eher durch – Zufälle?!

Psychologie
…ist dauernd im Spiel, etwa wenn es darum geht, die Einwohner von einem eher verrückten Investitions-Projekt zu überzeugen, dass Carl mitgebracht hat, aus seiner Zeit in Kanada, als Immobilien-Guru, Ehefrau inklusive, Architektin ihres Zeichens (S. 99ff. etc.). Diese Shannon will vor allem eines: Ihr Projekt möglichst 100%-ig realisiert sehen. Schönheit und Symmetrie diskutiert sie da schon mal mit dem Ich-Erzähler Roy (siehe S. 213ff.). Wofür der durchaus offen ist, hatte ihn eine frühere Geliebte (auch) für Kunst und Literatur geöffnet (S. 308f.): „Ich glaube, die Schule, die ich durchlief, wenn ich Rita Willumsen oben auf der Alm traf, war wertvoller als jede Universität…“. Ihr Ehemann wiederum wird wichtiger Investor, mit allen Chancen und Risiken… Ein Königreich wieder entstehen zu lassen, das der beiden Brüder?! Wobei Roy sein eigenes Projekt hat, rund ums erfolgreiche Führen von Tankstellen, ob nun als kleiner Angestellter – oder doch als Franchise-Nehmer (S. 366f.), dieses Geschäft scheint er zu verstehen. Um investieren zu können, wird er seine Hälfte des erfreulich großen Grundstücks als Sicherheit hinterlegen können, vielleicht aber… Stopp, bevor ein Spoiler naht  … Welche wichtige Rolle Stakeholder für ein (Immobilien-)Projekt spielen können, zeigt der örtliche Presse-Mann, selbst via seine Frau dem Bruder Carl feindlich verbunden, der seine frühere Liebschaft mit ihr erfreut wieder aufleben lässt – kaum hilfreich, typisch Carl allerdings, wie sein Bruder Roy zur nu genau weiß (S. 404ff. etc.) = aus Vergangenem erinnert. Exzellent dessen Auftritte vor Investoren: Gesprächs-Psychologie breitet Jo Nesbo fein aus, wie schon aus seinen früheren Thrillern bekannt (siehe etwa „Headhunter“, hier z.B. S. 522ff. etc.). „…wir begehren das, was andere begehren“ wird (S. 535) kurz vor Schluss Kern eines Gesprächs zwischen Roy und Shannon – wie treffend, wie wirksam, wie sich zeigt… HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de

Hanspeter Reiter