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Frühjahrs-Kollektion

Autor Christine Koschmieder
Verlag Kanon
ISBN 978-3-985-68159-4

»Besser kann man die 60er-Jahre nicht zusammenfassen.« wird die Jury des Bachmannpreises 2024 zitiert, für diesen historischen Roman mit annähernd 300 Seiten. Mich hat zwar primär das Versandhandels- und Mode-Thema interessiert (Neckermann & Co.), doch geht´s im Kern um die Wurzeln für derlei Erfolge in der noch immer recht jungen Bundesrepublik eben im Nazi-Deutschland…

Mode und Versandhandel
…haben seinerzeit eh viel miteinander zu tun: Wer lässt wo günstig (oder billig?!) produzieren – siehe DDR (und vorher „in den Ost-Gebieten“) ? Nun, hierum geht´s: „Lilo will den nächsten großen Coup landen: Bademoden für die reife Frau. Das neue elastische Gewebe soll ihr den Swimmingpool hinter dem neuen Bungalow finanzieren. Doch dann steht unerwartet die Vergangenheit in ihrer Kabine. Denn neuerdings interessiert sich die deutsche Justiz für Geschäfte, die damals im besetzten Polen gemacht worden sind. Lilo und Harry sind kein unbescholtenes Paar. Sie verbindet mehr als eine unschuldige Liebe zur Mode. Auch Josef Neckermann, für dessen Versandunternehmen Harry zu arbeiten anfängt, mag lieber nach vorn als zurück blicken. Während Harry für seinen neuen Arbeitgeber auf der Leipziger Messe Verträge aushandelt, erfährt Tochter Reni mehr über die Vergangenheit deutscher Konfektionshäuser, als ihr lieb ist. – Farbig und genau erzählt Frühjahrskollektion von einer Zeit im Wandel und von Frauen, die der Verkleidungen überdrüssig geworden sind.“ Und so für den Übergang von Tradition zur Moderne sorgen  … Wobei hier vielerlei Traditionelles rund um Textilien erläutert ist, auch beim Einsatz von Kunst-Stoffen (oder gerade dann?!) weiter relevant. Letztlich ein Sach-Roman, so lässt sich auch der „Dank“ der Autorin (S. 285ff.) interpretieren. Ein wichtiger Beitrag fürs (erneute) Aufarbeiten scheinbar längst vergangener (und inzwischen ziemlich vergessener) Taten, gerade in Zeiten wie diesen – siehe: Wahl-Ergebnisse…

Europa und USA
…driften derzeit (Anfang 2025) ja mehr auseinander als wünschenswert scheint: Seinerzeit war man´s eher überdrüssig, siehe „Besatzer“ – und doch gab´s vielerlei Verbindung, wie sich auch bei Model Reni bemerkbar macht (Popeye & Popcorn S. 46ff., S. 194f. etc.), letztlich weit m ehr als gewünscht. Zwielichtiges Business muss Ehemann (& Vater?!) Harry unternehmen, wenn er etwa für Reklamationen zu sorgen hat (S. 120f. usw.) – auch das lässt an die Trumpsche Gegenwart erinnern: Fake news in den 1960ern?! Und seine Annäherung an das Putinsche Russland erinnert wiederum an manche potemkinschen Dörfer früherer Zeit, wie sie gar zur Nazi-Zeit in der Ost-Produktion üblich schien (S. 150f. etc.). Und bevor Reni lange angedeutet nach den USA entschwirrt, um dort eine neue Karriere zu starten und ihren Fred hinter sich zu lassen, zeigt sich dortiger sprachlicher Einfluss durch Begriffe wie „Happening“ – und dadurch, dass ihre Mutter ihr Geschäftsmodell radikal ändert, als Folge der Enttarnung früherer Tätigkeiten… Doch stopp, derlei mag die Leserschaft sich selbst er-lesen  … Fazit: Nachdenklich machend, informativ und „dennoch“ unterhaltsam. HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de

Hanspeter Reiter