Freuds Dinge
Autor | Lothar Müller |
Verlag | Die Andere Bibliothek |
ISBN | 978-3-847-70410-2 |
Der Essay von Lothar Müller, Literaturwissenschaftler und – unter anderem – Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, erweitert den Blick auf die Psychoanalyse als Theorie und Therapie, indem er die „Dingwelt“ der gebildeten Bürgerwelt des 19. Jahrhunderts als Teil von Theoriebildung und Therapieform sowie als Material für Träume und Traumdeutung einbezieht. Der Autor nimmt wissenschafts-, kulturhistorisch und –soziologische Einordnungen vor und geht insofern darüber hinaus, als er zeigt, dass nicht nur Menschen Phänomene aufnehmen und integrieren in ihre Welt- und Selbstwahrnehmung, Ängste, Hoffnungen und Deutungen, sondern auch die Dinge gestalten (konstruieren), auf Seele, Geist und Körper in einer erzeugenden Weise wirken. (Neben Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin kann man mit Blick in die Gegenwart als weiteren Klassiker Marshall McLuhan für dieses Paradigma heranziehen.)
Die Wechselwirkung in den Blick nehmend, verdeutlicht der Autor, dass die Psychoanalyse mehr ist als die bekannte Persönlichkeitsstruktur von Es, Ich, Über-Ich, als der „psychische Apparat“ und auch mehr ist als eine aus der Naturwissenschaft geborene und diese gedanklich und metaphorisch aufnehmende Theorie und Praxis. Lothar Müller zeichnet den Weg von naturwissenschaftlichen Wurzeln zu anthropologischen, kultursoziologisch und –historischen Komponenten bis hin zu religionswissenschaftlichen Betrachtungen bzw. Einbeziehungen („Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ aus Freuds Todesjahr 1939). Seine Einordnungen demonstrieren zudem, dass Sigmund Freud den europäischen Raum überschreitet, sichtbar an seiner archäologischen Sammlung und deren Präsenz seinen Behandlungs- und Arbeitsräumen sowie daran, dass der Analytiker antike Mythologie, Mythen, Allegorien und Metaphern aufnimmt, in seine Arbeit verwebt und im Zuge dessen durchaus semantische Verschiebungen und Neubesetzungen vornimmt.
Selbst jene Leser, die sich als Kenner der Psychoanalyse bezeichnen, werden aufgrund des besonderen Betrachtungsparadigmas des Autors neue Blickwinkel einnehmen können. Das gilt insbesondere für zweierlei: für die Herkünfte und Einflüsse auf Theoriebildung sowie für Träume (Trauminhalte) und Vermutungen (Assoziationen, Deutungen) der Klienten. Deutlich wird, wie stark Freuds Behandlung darauf angewiesen ist, an ähnlich gebildete Personen zu geraten, die dem Freudschen Code folgen und diesen selbst realisieren können. Die Fallschilderungen illustrieren diese Abhängigkeit eindeutig. (Das trug Sigmund Freud bzw. der Psychoanalyse lange den Vorwurf der Elitentherapie ein.)
Der Essay verdeutlicht zudem, dass die Freudsche psychoanalytische Praxis mehr umfasst als das Gespräch auf der Couch anhand freier Assoziation. So sorgt etwa die Bevölkerung mit antiken Artefakten, auch in Blickweite des auf der Couch („Divan“) liegenden Klienten, dafür, dass antike Gegenstände bzw. Symbole, Helden, Sagen, Mythen, einschließlich semantischer Neubesetzungen durch Freud, Eingang finden in deren Träume und Assoziationen, in Annahmen und Deutungen. Sie erhalten Ankerfunktion, als Auslöser wie Deuter. Angemerkt sei, dass dieser Einbezug von Phänomenen und Narrativen aus der bürgerlichen Bildungs- und Lebenswelt, der „Umwelt“ des Klienten als ein Vorläuferattribut des Jahrzehnte später populären „ökologischen“ Ansatzes in Psychologie und Pädagogik gedacht werden kann.
Die Psychoanalyse „gräbt“ sich von der Oberfläche in die Tiefe, von dem Bewussten in das Unbewusste vor und ist damit eine Form von Archäologie – ganz im Sinn Michel Foucaults. Freud arbeitet nicht nur methodisch archäologisch (als Paradigma, als Denkanweisung), sondern nimmt das auf, was die junge Grabungswissenschaft hervorbrachte: Dinge und Narrative.
Die Psychoanalyse startet aufgrund Freuds Herkunft aus der Psychopathologie mit naturwissenschaftlicher, präziser: neurowissenschaftlicher Metaphorik, indem sie Apparaturen und deren Funktionen gemäß ihrer Logik analogisiert und dann – wie es in der Metaphorik methodisch praktiziert wird – sie in einen neuen, hier den Seelen-, Persönlichkeitskontext hinüberträgt. Bekannt ist das Modell der Dampfmaschine, und Lothar Müller führt die „Mischfotographie“ aus, die für die Theorie der Traumdeutung zentral ist. (Die Anpassung von Metaphern und ihrer Quellcodes findet seine Fortsetzung bis in die Gegenwart. Der Weg von der Dampfmaschine zu Rechenmaschine, zum Computer, die Rede von Hard- und Software in Bezug auf das Gehirn demonstrieren dies.) Zum Teil parallel dazu sowie im Fortlauf erweitert Sigmund Freud seine Repertoire um antike Artefakte und Mythologie, Märchen, Zentralfiguren und folglich Allegorien, um Praktiken und Überlegungen, die den Schritt, den sein Schüler Carl Gustav Jung machen wird, nämlich vom individuellen zum kollektiven Unbewussten und menscheitsumfassenden Archetypen zu sprechen, als gleichsam naheliegend, weil von Freud vorbereitet, erweist.
Der Autor fängt den Leser nicht nur sachlich und logisch, kognitiv und informatorisch ein, sondern ebenso durch seine fließende, fast elegant anmutende Sprache, deren Sätze die Überlegungen klar konturieren und sich ihrem Gegenstand voller Sympathie widmen. Und er stellt sich inhaltlich bei Fallschilderungen und insbesondere dem Beschreiben, Einordnen und Ausweisen der Bedeutung der Ding- und Götterwelten auf Leser ein, die mit diesen und besonders mit der griechischen Antike nicht mehr vertraut sind. Die Vorstellungswelt der Leser aktiviert Lothar Müller nicht zuletzt durch Abbildungen, etwa der eines gewebten Teppichs, dessen Verknüpfungen sinnbildlich das assoziative und synthetische Verfahren der Therapie nahelegen, oder Freuds Schreibtisch sowie Fotographien von Skulpturen und Ikonen, die in Freuds Denken und Handeln besonderen Stellenwert genießen.
Die Gestaltung von Schober und Einband des Buches sind für das Auge eine Augenweide und unterstreichen sowohl die stilistische und gedankliche die Eleganz als auch die Vielfalt der von Funden, die Lothar Müller betrachtet und auf ihre verschiedenen Prägungseffekte hin befragt.