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Ein altes Haus am Hudson River

Autor Wharton, Edith
Verlag sonstige

Edith Wharton (1862- 1937) war eine viel gereiste, breit gebildete, politisch interessierte, in künstlerischen Kreisen verkehrende vielseitige und viel schreibende Literatin. Erstmalig in deutscher Ausgabe erscheint der Roman „Ein altes Haus am Hudson River“ von 1929 (Fortsetzung: The Gods Arrive, 1932) im Manesse Verlag. Und dafür herzlichen Dank!

Ungewöhnliche Persönlichkeiten dank ungewöhnlicher Neigungen, bis hin zu Ticks; konträre Städte bzw. Regionen (Euphoria als Inbegriff des damals Modernen, Leuchtenden, Hellen, Positiven und monetärer Logik), Paul`s Landing als Inbegriff von Vergangenheit, Tristesse, Dämmerung und ungeahnten, völlig überraschenden Aufhellungen, von traditioneller Lebenshaltung und –führung) und ebenso polar geschilderte Milieus (Innen und Außen, Literatur und Literaturgehabe/betrieb) und schließlich noch Persönlichkeiten, deren partikularer Charakter bereits mit wenigen Strichen gezeichnet ist. Hinzu kommt: Nahezu auf jeder Seite schimmert literarische Geschichte, implizite literarisch oder künstlerische Anspielungen und Bezüge, auf; daher nimmt der Leser die Fußnoten dankbar auf, die knapp erläutern, worauf sich die Autorin bezieht. Schließlich sei der sprachliche Variationsreichtum genannt, der imponiert und dabei charmant und unaufdringlich wirkt; denn die Variationen in Wortwahl, Satzbau und Tonaliät sind dem jeweilgen Kontext angemessen, kommentieren das Gemeinte sozusagen auf der Metaebene.  

Eine Inhaltsangabe oder Zusammenfassung zu machen, erscheint dem facettenreichen Geschehen und Gemälde unangemessen. Deshalb lieber ein Hinweis auf das, was Leser in diesem Roman neben dem Genannten weiter finden: Zarte Ironie, wenn es um die Kontrastierung des jungen Protagonisten, seiner Sprachvorlieben im Schreiben von Erzählungen und Romanen, seiner Hingabe an Tiefe des Gefühls, Gedankens, vor allem an seine Phantasie, und seiner Sehnsucht nach Kontinuität, Verlässlichkeit und Tiefe, die er in Vergangenem findet, mit jenen Personen geht, die „im literarischen Milieu“ ihr Zuhause wähnen. Ihr Verhalten, ihre Gedanken und Einstellungen zu Literatur und dessen Betrieb verhalten sich geradezu entgegengesetzt zu Haltungen und Verhalten des Protagonisten, Vance. Insofern kann man sagen, Edith Wharton verwebt zwei konträre Welten. Dies, indem Vance, ein junger Mann mit dem Hang zu einer tunnelartigen Weltwahrnehmung, dank bestimmter Begegnungen mit sich selbst und anderen und dank seiner schriftstellerische Neigung und Praxis in einen Kreis hineingerät, der ihn zu einem Spagat nötigt, den er nicht, bestenfalls kaum auf Dauer leisten kann.

Der Roman kann als Entwicklungsroman gelesen werden. Entfaltet wird die Persönlichkeit von Vance in der Spannung von Vance-dem-jungen-Mann und Vance-dem-Schriftsteller mit der Tendenz, die Identität als Schriftsteller zu betonen; Halo, eine nur drei Jahre ältere junge Dame, spielt eine initiatorische, katalysierende, kurz: unabdingbar wichtige und verwickelte Rolle für die Entwicklung von Vance; sie selbst wird ebenso wie Vance im Verlauf des Romans reifen (im Sinn von Auflösung von Ambivalenzen und dem Finden einer Orientierung und Direktion für sich). Bedeutsam sind weitere Charaktere, weniger ausgemalt, dafür scharf gezeichnet und gleichzeitig für Interpretationen offen; sie sind nicht Statisten, sondern Personen, die die Hauptbeziehung, diejenige zwischen Vance und Halo, maßgeblich beeinflussen und analog zu Rahmenbedingungen etwas ermöglichen, be- und verhindern, verunmöglichen.

Der Wechsel zwischen poetischem Erzählton, knapper Skizzierung von Charakteren und flotten (heute: „coolen“), klischeehaften Dialogen im Geiste distanzierter Ironie macht das Lesen außer dem Genannten kurzweilig – und immer zu einem Vergnügen, das einmal einer sanften Berührtheit durch das Geschehen, vor allem durch die Gedanken von Vance, entspringt, ein anderes Mal einer spielerischen oder einer sanft-sarkastischen Formulierung, die die innere Distanz der Erzählerin zu etwas, das sie eher ablehnt als gutheißt, verdeutlicht und in den Sprachhabitus in Künstler/Schriftstellerkreisen der 1920er einführen. Sie wirken erstaunlich gegenwärtig.

Das alte Haus am Hudson River – es nimmt selbstredend einen zentralen Platz ein: für Möglichkeiten und Optionen, für Geschehnisse und Folgen. Da die ganz besondere Geschichte von Halo und Vance, gerade in ihrer künstlerisch-mystifizierten und emotional durch engste Verbundenheit (Affinität) beeindruckenden Prägung, weitergeht, wird den Leser kaum etwas davon abhalten, umgehend zur Fortsetzung mit dem Titel „The Gods Arrive“ zu greifen – bzw. geduldig-ungeduldig auf das Erscheinen zu warten.

Hanspeter Reiter