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Digitale Demenz

Autor Spitzer, Manfred
Verlag Droemer
ISBN 978 3 426 27603 7

Manfred Spitzer, neurowissenschaftlich orientierter Mediziner, Psychiater und medial präsenter Aufklärer wie Warner vor dem homo digitalis, entlehnt den Haupttitel „Digitale Demenz“ südkoreanischen Wissenschaftlern und schafft es auf diese Weise einmal wieder an die Öffentlichkeit, zum Beispiel am ersten Tag des Buchverkaufs in den „Deutschlandfunk“.

 

Wer nun abwinkt: „Ach, der Spitzer, Buhmann der Old Fashion“ – der macht es sich in jedem Fall zu leicht. Denn zum einen weiß der renommierte Autor und Forscher exakt, wovon er spricht, wenn er auf neurobiologische, -physiologische, -psychologische Folgen, Plastizität, Lernerfahrungen verweist. Zum anderen ist er ein gefragter Gutachter und Interviewgast sowie ein erfahrender Beitragender in sogenannten Expertenrunden.

 

Das relativierende „sogenannte“ entspricht Erfahrungen von Manfred Spitzer in Expertenrunden, die in ihm schrille Empörung und blankes Entsetzen auslösen. Und in der Tat: Selbst mit Abstrichen von der Parteilichkeit bestätigen M. Spitzers Erzählungen die ärgsten Befürchtungen: Unwissen, falsche Einbettung der Wirkungsweise und Auswirkungen digitaler Dauernutzung, Geschäftsinteressen und ähnliches verblenden offenkundig das Denkvermögen ministerieller Hirne… . Der Part des Buches, der dem gesellschaftskritischen und fachlich versierten Zeitzeugen entspringt, nimmt in diesem Buch großen Raum ein. Auch wenn die Töne streckenweise etwas schrill, die Argumentation etwas polemisch gerät – der Kern ist unbestritten. Und: Gerade bei diesem Thema scheint das Pointieren, gar das lautstarke Aufschreien immer wieder notwendig, im wörtlichen Sinn. Das unermüdlich zu tun, gehört zu den Leistungen des Autors.

 

Wer die neurowissenschaftliche Begründung genauer kennen lernen und damit die Argumentation fachlich nähren möchte, sollte zu anderen Büchern des Autors greifen, z.B. „Lernen“ (oder – mit Verlaub – zu Büchern von Kollegen, etwa G. Hüther, der mit dem inzwischen verstorbenen Kinderpsychotherapeuten Wolfgang Bergmann „Computersüchtig“ geschrieben hat.) Erwähnt wird zwar Nicholas Carr, nicht aber Jaron Larnier – und gerade dieser ist einer der sehr wenigen auch im Netz außerordentlich angesehenen Experten, der die psychiatrische Diagnose „locked in“ auf den mentalen, durch Algorithmen beengten Raum kundig und tiefgründig thematisiert. Zu erwähnen istzudem www.edge.org, wo nicht palavert, sondern sehr gehaltvoll von vor allem Wissenschaftlern, Intellektuellen, Netzaktiven kontrovers debattiert wird. Auch der Seitenblick auf „Lesen“ lohnt – hier gibt es in den letzten drei Jahren die eine und andere Publikation, die Spitzers Warnungen und Befunde stützt, weiter führt, vertieft.

 

Das Buch liest sich flüssig, gerade wegen des erwähnten Bias. Die Kost ist aber nicht leicht verdaulich für den, der sich ernsthaft mit der Materie befasst. Insofern ist dem Autor dafür zu danken, dass er – wie er schreibt, vor allem in seiner Verantwortung als Vater – seine (Teil-) Resignation überwunden und ein Buch geschrieben hat, das für den Kundigen nichts Neues erhält und dennoch lesenswert ist; das für den wenig Bewanderten jedoch auf jeder Seite Anhaltspunkte bietet dafür, die Begeistungsstarre für Digitalmedien aus pädagogischer, sozialisatorischer und politischer Sicht zu beenden und den kritischen Blick zu wagen.

 

Dem Buch sind nicht nur viele Leser aus der Praxis von Bildung und Erziehung zu wünschen, sondern auch und gerade Leser aus jenen Politikbereichen, die bildungspolitische Weichenstellung verantworten. Sie sollten lesen, in Scham versinken – nur, um mit dem Elan rebellierender Reaktanz sich dafür zu engagieren, dass die gesellschaftspolitisch eminent kritischen, ja gefährlichen Aspekte eines „Weiter-so“ a) erkannt und b) tätlich ernst genommen werden – in c) einer Umkehrung der Marsch- und Finanzierungsrichtung!

Dr. Regina Mahlmann