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Die Zeit, die Zeit

Autor Martin Suter
Verlag Diogenes
ISBN 978-3-257-06830-6

Oha, wieder kommt die besondere Kunst dieses Autors zum Tragen: Die Charaktere der handelnden Personen sehr fein zu zeichnen – und aus ihren Gedanken die Handlungen zu motivieren. Denn es geschieht ihnen nicht einfach etwas, sei es nun Zeit, die vergeht – oder einfach Veränderungen, ohne dass Zeit verginge, die es gar nicht gibt, so jedenfalls der Antipode der eigentlichen Hauptperson Peter Taler. Das Ziel des 82-jährigen Nachbarn Knupp ist es, seine Frau  zurück zu holen, die vor 20 Jahren verstorben ist. Auch Peter Taler hat seine Frau verloren, vor einem Jahr – sie wurde vor der Haustüre erschossen. Gleiches Schicksal, gleicher Wunsch, die „Zeit zurück zu drehen“? Knupp sieht das anders und outet sich nach und nach als Kerbelianer. Was bedeutet, Zeit als „chronos“, vergehend also, Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft trennend, gebe es nicht. Schafft er es also, sämtliche Veränderungen seit einem Tag X zurück zu führen, einen identischen Zustand herzustellen, dann könne er quasi „zurück“ dorthin, vor die Zeit des Todes seiner Frau: „Wenn wir uns anstrengen würden, ganz genau gleich zu sitzen wie auf dem ersten Bild, wäre keine Zeit vergangen. Wir könnten uns so in den Augenblick vor einer Viertelstunde zurückbegeben … Auf dieselbe Art könnten wir uns auch Tage, Monate, Jahre zurückversetzen … Die Buddhisten sehen die Zeit nicht als etwas kontinuierlich Fließendes, sondern als ein Aufeinanderfolgen von lauter Einzelmomenten … Wie ein Filmstreifen.  … Wenn Sie zwei solcher Momentaufnahmen übereinanderlegen und sie sind absolut deckungsgleich, dann haben Sie die Zeit überlistet …“ (S. 60) Ein antiquarisches Buch von eben jenem Walter W. Kerbeler „Der Irrtum Zeit“ berichtet von einem Experiment eines James Lee Buttonpond aus dem Jahre 1970, auf das sich Knupp bezieht. Und mehr und mehr schafft er es, Peter Taler als Komplizen einzubeziehen, indem er ihn mit Aufnahmen rund um den Mordtag seiner Frau lockt: Knupp ist ein fanatischer Fotografierer. In diesen Dokumenten liegt auch die Chance, einen bestimmten Tag „wieder her zu stellen“. Leser wird immer mehr mitgerissen, im Strudel dieses letztlich manisch werdenden Versuchs, einen früheren Zustand neu zu schaffen – mir ging´s jedenfalls so: Schaffen Sie´s? Zehntausende Franken kostet es, Nachbarn zu bestechen, Veränderungen zu akzeptieren – Pflanzen einer ganz bestimmten Art im Austausch zu beschaffen, dazu Fahrzeuge, die seinerzeit vorm Haus geparkt waren – usw. usf. Da braucht es schon die Kreativität des Buchhalters Peter Taler, Umwege für Zahlungsflüsse zu finden. Und soviel sei verraten: Suter hat sich einen derart verrückten Schluss einfallen lassen, dass Leser selbst interpretieren kann: Haben sie´s geschafft – oder … Und für Weiterbildner gibt es eine Menge Stoff zu Themen rund um Kommunikation und Konflikt: Wie Knupp seinen Nachbarn geschickt beeinflusst, was der durchaus durchschaut – und wieder für sich selbst nutzt. Und wiederum mit seinen KollegInnen im Büro umgeht … Viel Vergnügen und manche Erkenntnis Ihnen!

Hanspeter Reiter