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Die Spätheimkehrerin oder Römisch zwei

Autor Rega-Helga
Verlag sonstige
ISBN 978 3 00 033381 1

Zwei Tage, nachdem mich das Rezensionsexemplar erreicht hatte, wollte ich der Autorin für die Zusendung danken. Das Buch lag auf dem Esstisch – zum Lesen bereit. Ich nahm es in die Hand, und als ich die Handschrift der Autorin,Dr. Helga Ebelt, sah, las ich die Widmung. Dann blätterte ich. Und begann zu lesen – und las den ganzen Abend. Was war geschehen?

Römisch I (ebenfalls von mir besprochen) lies mich eine Fortsetzung erwarten. Während Römisch I jedoch eher ein allegorisch verfasster Text ist, schreibt und komponiert die Autorin Römisch II völlig anders: episodisch, mosaikartig und assoziativ erzählend. Mit anderen Worten: Ich las einen biographisch-narrativ verfassten Text, dessen Beginn mich bereits in das Geschehen hineinzog.

Die Autorin spricht zu ihrem ersten, früh verstorbenen Ehemann. In diesem fiktiven oder virtuellen Dialog schildert sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse, ihre inneren Nöte und Leiden, aber auch ihre Freuden und Quellen der Kraft, die sie als Kind und Jugendliche während des Krieges und nach dem Zweiten Weltkrieg durchlebte. Hitler-Deutschland, Krieg und die ersten Jahre der Nachkriegszeit im Alter von drei bis etwa 14 Jahren gehören die Hauptschilderungen. Einsprengsel zu ihrer gegenwärtigen Lebenssituation, zu ihrem beruflichen Lebenslauf und den damit verbundenen Erlebnissen mit Kolleginnen und Kollegen aus Medizin und Psychiatrie sowie zu ihren therapeutischen Phasen der Aufarbeitung von Kriegstraumata und den Nachwehen als von der Mutter nicht geliebte Tochter in der Rolle der Patientin verstärken den Sog in die mosaikartige Erzählung.

Das Erleben der Lektüre glich einem Wechselbad. Der Eindringlichkeit der Schilderungen im wörtlichen Sinn kann keiner entgehen, der das Buch mit empathischer Gefühlslage liest. Die schlichte Sprache, eine Rhetorik ohne Schnörkel und kunstvolles Dekor, die kurzen Sätze, selbst die – aus einer emotionalen Distanz zuweilen übertrieben wirkenden – Anrufungen von „Thilochen“ (Tilo heißt der verstorbene Gatte), zudem der Wechsel zwischen nüchterner Beschreibung selbst traumatisierender Geschehnisse, die mit Freude gefüllten Beschreibungen von Begegnungen, geglückten Handlungen, mutigen Entscheidungen – all dies im Verbund mit metareflexiven Sätzen, Fragen und Abschnitten vereinnahmt beim Lesen, beeindruckt in ganz besonderer Weise.

Nacherzählen lässt sich der „Roman“ nicht, ohne dass eine solche Verkürzung als banalisierte Zusammenfassung erscheint. Deshalb mache ich diesen Versuch nicht.

Hier schreibt eine promovierte Medizinerin und psychoanalytisch ausgebildete Frau in der zweiten Hälfte des achten Jahrzehnts ihres Lebens. Sie zeigt uns Glücklichen, die niemals einen Krieg erleben mussten, was es bedeutete, in jener Zeit Kind zu sein. Sie schildert, was ihr half, trotz dreijähriger Schulabstinenz lesen zu lernen: nämlich anhand von Literatur, die in polnischen Haushalten, wo die Mutter arbeitete, als Heizungsmaterial benutzt wurde. Die Autorin führt uns in das Innenleben eines Kindes ein, das vor der Mutter – im Gegensatz zur Schwester – stets Angst hatte und keinen Halt fand und dennoch den Lebensmut nicht verlor. Die Autorin zeigt uns, was es hieß, von der „höheren Tochter“ und all dem damit verbundenen Standesdünkel und den erzieherischen Vorgaben hinab zu fallen auf das Niveau von Bediensteten, Hungernden, Bettlern und Flüchtlingen. Sie zeigt uns, was es hieß, im und kurz nach dem Krieg eine Frau zu sein – Missbrauch und Vergewaltigung, und wie es ihr als Kind gelang, einige Frauen vor dieser Katastrophe zu schützen und sich selbst – vor ihrem eigenen Vater.

Sie führt uns vor Augen, wie es ihr – im Rückblick – gelang, das aufzubauen, was wir heute mit Resilienz beschreiben. Es ist ein erschütternd-lehrreiches Buch, in dem wir ohne Larmoyanz und gleichzeitig mit der emotionalen Wucht der Erinnerung sowohl von Leiden als auch erfahren, wo die Nahrung für Freude und den Willen, weiter zu leben, in dem Kind, dem Teenager und in Menschen lagen, von denen die Autorin erzählt. Ein ungemein berührendes Buch, das dankbar und demütig macht.

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

Dr. Regina Mahlmann