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Die letzten Tage der Menschheit

Autor Pietsch/Boller
Verlag utz
ISBN 978-3-831-64372-1

Der berühmte Klassiker von Karl Kraus, doch nun in einer Graphic Novel, die diesem noch recht neuen Comic-Genre ausgesprochen gut tut: Statt tiefschwarzer Seiten, die viele Graphic Novels eher zur „Gothic Novel“ machen, eher klassisch-ruhiger Panels in wenig hektischem Layout. Auch die Texte in den Sprechblasen halten sich in Maßen statt auszuufern und manche Panels zu dominieren: ein ausgewogenes Text-Bild-Verhältnis. Reinhard Pietsch hat den Text von Karl Kraus gekürzt und auf Kern-Aussagen zugespitzt, eine Technik, die er beim Übersetzen von Graphic Novels aus dem Amerikanischen kennen gelernt hatte. Dabei kommen Wiener Dialekt wie auch vielerlei Akzent und Verballhornung ins Spiel, die dem Leser den Wiener „Schmäh“ exzellent nahebringen. David Boller belegt zum wiederholten Male seine vielseitige Feder, im Sinne pointierender Bildkunst, die hier besonders stark mit der Mimik der dargestellten (= historischen Figuren nach empfundenen) Personen arbeitet: So spielen sich Text und Bild passgenau die Bälle zu! Auf grausame „Einstellungen“ wird verzichtet, dennoch auch bildlich das Grausame an einem Krieg pointiert, an diesem speziell: Siehe das Umgehen mit Verwundeten, mit Amputierten und durch Giftgas Erblindeten. Satire kommt via dieser Bild-Text-Kombination besonders gut rüber: Leser kann die Aussagen anders und einfacher verarbeiten als mit reinem Text. Vor allem zwei Gesellschafts-Gruppen in Österreich (genauer: Wien), teils auch in Deutschland (Berlin) müssen sich aufs Korn genommen sehen: Einmal die Militärs, womit die Offiziere gemeint sind, wenn sie sich etwa über die Außenwirkung mokieren, weil einer mal 70.000, der andere mal 90.000 Mann „verloren“ hat – und im Anschluss daran man sich darüber austauscht, wer welchen Orden oder Ehrendoktor welcher Universität erwarte. Zum Anderen die „Elite“ im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, darin Unternehmer als Kriegsgewinnler und Adelige und Akademiker als solche, die selbst ums Schlachtfeld rumkommen oder dies für ihre Söhne erreichen. Und sich gerade deshalb gerieren, nicht teilhaben zu dürfen … Ausgesprochen gelungen, betroffen machend und so hoffentlich wirksam statt „nur“ perspektivisch (bewusst) verzogen berichtend. – Der Verlag selbst nennt den Urtext eine „monumentale Tragödie über den Ersten Weltkrieg“ – sie „lenkt den Blick auf das Absurde, Operettenhafte, die Täuschungen und Selbsttäuschungen, die unaufgelösten Widersprüche des damaligen Alltags.“ (U4) Ein Drittel seiner Texte (in V Akten mit Vorspiel) besteht aus Zitaten, höchst ungewöhnlich! Dass dieser (mit Glossar) fast 200-seitige Comic ausgerechnet jetzt im Sommer 2014 erschienen ist, hat seinen Grund natürlich im Medien-Hype zur 100. Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs. Und er ist ein wichtiger Bestandteil dieses medialen Rundum-Schlags, bildet er doch Denken und Tun vieler Menschen von damals ab – im Sinne des Wortes … HPR

Hanspeter Reiter