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Die Kunst, unter Wasser zu leben

Autor Olli Jalonen
Verlag Mare
ISBN ‎ 978-3-866-48679-9

Der bereits im Alter von 15 Jahren durch den Bau von Sonnenuhren auffallende, mit 17 Jahren ins Queens College in Oxford eintretende und mit 20 Jahren einen Beitrag zum Mars publizierende spätere Astronom Edmond Halley ist landläufig bekannt als Namengeber des periodisch wiederkehrenden Kometen Halley oder Halleyschen Kometen. Der Komet wurde nach ihm benannt aufgrund zutreffender Aussagen zu seinem Erscheinen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft. Im Roman spielt die (heute ist klar: zutreffende) Prognose eines erneuten Erscheinens zum Ende des Jahres 1758 hin (sowie weitere) eine spezielle Rolle. Dieses aus der Zeitperspektive des Romans bedeutsame Zukunftereignis wird für eine ganz bestimmte Beziehungsbotschaft Bedeutung erlangen, wo eher flüchtige Leser nur den Ehrgeiz nach Ruhm seitens des Gelehrten sehen.
Der finnische Autor lässt dem Roman „Die Himmelskugel“ mit seinen Hauptpersonen Angus und dem Universalgelehrten Edmond Halley einen zweiten folgen. Beide Romane sind unabhängig voneinander lesbar. Und während der erste Roman Himmel bzw. Universum ins Zentrum stellt, besetzt diese Position im zweiten Roman das Wasser. Die Romanhandlung verknüpft historische Tatsachen (im Zeitraum der Romane v.a. Reise ins südliche Gebiet Großbritanniens im Atlantik, nach St. Helena, Bedeutung und Studien in Greenwich am Observatorium, mit 22 Jahren jüngstes Mitglied der Royal Society in Oxford, dennoch Schwierigkeiten, ein „Amt“ zu finden) mit Erfundenem, und ein Desiderat, das für beide Romane gilt, bleibt: ein Vor- oder Nachwort zu historischen Fakten und Erfundenem.

Auf St. Helena, wo der Gelehrte im ersten Roman anlandet, erstellt er nicht nur den ersten Katalog der Sterne des südlichen Sternhimmels mit genauen Positionen einer bestimmten Anzahl von Sternen auf, sondern nimmt Angus auf, der bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr in der Familie Halley lebt und meistens die Reisen und Experimente von Edmond Halley begleitet, unterstützt, maßgeblich voranbringt. Es sind die Erinnerungen Angus`, denen der Leser folgt. Olli Jalonen gelingt es, Sprachduktus, Tonlage, Gedankengänge und Gefühlsschilderungen im Zeitkolorit zu halten, so dass die Figur glaubwürdig bleibt. Nicht nur ihn selbst betreffend. Angus` Welt dreht sich um den Stern des von ihm bewunderten und hochverehrten Gelehrten und lässt dadurch sowohl sein eigenes Leben als auch das des Gelehrten, soweit er es bezeugen kann, Revue passieren. Der Abschied fällt zusammen mit einer Forschungsreise im Atlantik, die die beiden wieder nach St. Helena führt und für den Gelehrten in einem verfolgten Ziel mündet: in die Anfertigung einer Karte, auf der jeder Ort mit dergleichen Auslenkung eines Kompasses durch Linien verbunden ist, so dass sich jeder auf die Navigation via Kompass verlassen kann. „Die Kunst unter Wasser zu leben“ beginnt im Jahr 1688, in dem Angus sechzehn Jahre alt ist und bereits vier Jahre bei der Familie Halleys lebt, als Gehilfe des Gelehrten und im Haushalt. Die erinnerten Episoden dominieren zwar den Roman, werden indes unterbrochen und bereichert durch Texte, die von Edmond Halley oder dem „Herrn Pastor“.

Sowohl der Herr Pastor als auch der Gelehrte werden von Angus als Väter empfunden; ersterer während seiner Kindheit auf St. Helena, wo noch ein Bruder und die Mutter leben, und zweiterer ab seinem Leben bei den Halleys nahe London: „Ich wohne im Hof zum Goldenen Löwen in der Obhut des von mir hoch verehrten Hern Halley und darf mit seiner Familie am Esstisch sitzen.“ Diesen respektvollen Ton behält Angus bei, wenn er als Erzähler – mit seinen nunmehr dreißig Jahren ein erwachsener Mann – den Leser teilhaben lässt an seinem vergangenen Leben an der Seite des Gelehrten, dem er alles Wissen und Können und – wie sich zeigen wird – auch eine Zukunft verdankt, für die er sich, wenn auch sehr schweren Herzens und mit Trauer, die Herrn Halley teilt, entscheiden wird. Diese Entscheidung verdankt sich indes weniger einer von Rezensenten benannten Emanzipation als vielmehr veranlasst durch zwei schwerwiegender Ereignisse, die zu seinem Urteil führen, für Forschungsreisen nicht mehr gut geeignet zu sein (obgleich Herr Halley anderer Meinung ist).

Olli Jalonen behält den gleichsam melodischen Satzbau mit seiner gedanklichen Klarheit bei. Rhythmus und Klarheit sind eingängig, doch keinesfalls simpel, auch wenn dies zunächst so erscheinen mag. Und neben Berichten von seinem alltäglichen Leben, verdankt der Leser Angus konkrete Eindrücke in die historische Epoche, vor allem in Usancen, Traditionen, in geschriebene und ungeschriebene Regeln des Was-wem-gegenüber-sagen-dürfens, des Zusammenlebens, ferner akademischer Offenheit und Notwendigkeiten in der Kommunikation und Thematisierung von Sujets, und bedeutsam auch die Unterscheidung von Rolle und Privatperson. Einblick gewinnt der Leser zudem in kreative, ungewöhnliche philosophische wie wissenschaftliche Überlegungen, in Design und Durchführung von Experimenten bis hin zu Expeditionen. Zu den erzählten Erinnerungen gesellen sich, Dialoge, Logbucheintragungen und Traktate, die erhellen, was im Rahmen von Forschung im späten 17. Jahrhundert möglich und nötig war und mit welchen Anstrengungen, fachlicher Kompetenz und Gesprächsführung wie Vor- und Fürsorge erfolgreiche Forschungsreisen verbunden waren.

Wie der junge Edmond Halley ist Angus, der ärmlichen Verhältnissen entstammt, indes dank der Erziehung des „Herrn Pastor“ u.a. zu lesen und zu schreiben gelernt hat, sehr wissbegierig und ehrgeizig, modern: hochgradig intrinsisch motiviert und stringent diszipliniert. Mit Freude am Lernen durch Lesen, Beobachten, Zuhören und Ausprobieren liest er philosophische und naturwissenschaftliche Journale, wodurch seine Phantasie insofern angeregt wird, als er das Gelesene auf sein Wissen und darauf beruhende Möglichkeiten im Handeln weiterdenkt. Er ersehnt, eine Entdeckung zu machen, die nicht nur ihn, sondern ganz hervorgehoben Herrn Halley stolz (auf ihn) machen könnte. Die Treue und Ehrerbietung, die Bewunderung und der uneingeschränkte Respekt vor dem Gelehrten, dem Ersatzvater, ist durch nichts zu erschüttern und kleidet sich in Sätze und Metaphern, die noch den nüchternsten Leser anrühren.

Eine ähnliche Wirkung haben zwei weitere Charakteristika, mit denen Olli Jalonen die Figuren und deren Beziehung zeichnet: die eher zurückgenommene, zurückgehaltene Emotionalität selbst in Momenten intensivster Gefühlsreaktion, so dass es zu einer Kluft zwischen Gefühlsintensität und deren (verbalem, da sprachlich verfassten) Verhaltensausdruck gibt; bemerkenswerte Beispiele dafür, dass die heutige Extravertiertheit keinesfalls für sogenannte Echtheit von Gefühlen steht und intensive Emotionen durch zarte und wenige Worte samt zurückgenommener Körpersprache mitgeteilt und verstanden werden können – auch wenn zu jener Zeit Verhalten von Regeln des Benimms eingehegt oder flankiert wurden, die dies erleichtert haben mögen.

Das zweite Charakteristikum betrifft die Tiefe der Beziehung zwischen dem Gelehrten und seinem Gehilfen, zwischen Erzieher und Sohn/ Schüler sowie die heute in der Rollendiffusion kaum noch realisierbare Trennung von Rolle (Erzieher, Herr vs Schüler, Gehilfe, Ersatz- oder Ziehvater und Sohn). Sie wird durchgehalten, dank gesellschaftlicher Korsettstangen, aber auch dank des Bemühens auf beiden Seiten, die Aufrichtigkeit der Zuneigung ebenso wahrhaftig wahrnehmbar zu machen wie die Nüchternheit der Rollenbeziehung. Darin erweist sich Achtung, Hochachtung, Respekt füreinander sowie Akzeptanz der geltenden Normen. Den Kulminationspunkt, den Abschied voneinander, bereiten die letzten zwei, drei Kapitel mit dem Fokus auf Verhalten, Handlungen, Taten, Dialoge vor, die stärker als andere Kapitel die Beziehung in den Vordergrund rücken.

Alle Kapitel werden durch knappe Sätze eingeleitet, die sich an dem orientieren, was in dem jeweiligen notieren Zeitabschnitt für Angus herausragende Bedeutung erlangt. Zunächst mag der Rhythmus der Sätze, die man irgendwann gleichsam von Angus gesprochen hört, mühsam, weil eintönig erscheinen. Doch wird dem Leser, der Angus und die beiden Hauptakteure bis zum Schluss des Romans begleitet, ein Lese-, Denk- und Gefühlserlebnis der besonderen Art zuteil. drmahlmann@aol.com www.dr-mahlmann.de www.gabal.de

Regina Mahlmann