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Die Dämonen

Autor Heimito von Doderer
Verlag C.H.Beck
ISBN 978-3-423-10476-0

„Die Kaps“, sagte Sylvia, „ist großartig, und irgendwie geheimnisvoll, wie eben immer. Glaubst du, die heult oder weint oder schreit oder jammert? Gar nicht. Sie hat zu mir gesagt: „Fräulein Sylvi, mir ist der Boden herausgefallen. Ich summe und brumme wie eine Glocke von dem Schlag. Wenn das einmal aufhört, wird es erst richtig wehtun.““ Kann man den Schock, die Reaktion auf den Tod eines geliebten Kindes anrührender, tiefergründig und mit noch treffenderen Worten und Metaphern beschreiben? – Kaps starb kurze Zeit später.
Der Autor und sein Werk
„Die Strudlhofstiege“, erstmalig erschienen 1951, machte den höchsten Eindruck auf nicht nur Leser in Österreich. Mit etwa Mitte 50 Jahren wurde Heimito von Doderer durch die „Strudlhofstiege“ berühmt und galt trotz seines „barbarischen Irrtums“ (H.v.D.) im Nationalsozialismus als vom P.E.N-Club vorgeschlagener Nobelpreistanwärter für 1958, den jedoch Albert Camus erhielt. 2014 wurde (auch) in der Bundesrepublik Deutschland über die physische „Strudelhofstiege“ in Wien berichtet, rund um das Jubiläumsjahr des Beck-Verlags 2013. Damit war Heimito von Doderer (1896 – 1966) wieder präsent.
Die Geschichte
Und mit ihm „Die Dämonen“, sein (zweites) Hauptwerk, fast 1345 Seiten stark, Erstauflage 1956. Eine Inhaltsangabe zu formulieren, verbietet bereits die enorme Anzahl von Personen, die Erwähnung finden, und vor allem das rhizomartige Erzählen, das Springen in der Zeit zwischen den Jahren 1916 bis 1927, dem Jahr des Brandes des Wiener Justizpalastes; ein Datum, auf das die Verästelungen, Verknüpfungen Beziehungen und Lebenswege zulaufen und sich Schicksale entscheiden.
Dämonen …
„Die Dämonen“ kann man nur lesen, wenn man Muße hat. Andernfalls findet man die gemeinsame Wurzel der Verzweigungen der Lebenslinien und Karrieren der Personen, die unterschiedlichen sozialen Schichten entstammen, und gesellschaftlichen, auch politischen Entwicklungen nicht. (Über politische Implikationen schweigt diese Rezension allerdings und konzentriert sich primär auf das sprachlich und dramaturgisch erzielte Lektüreerleben.) Der mentale rote Faden fehlte gänzlich. Zum anderen ist es anders nicht möglich, die sprachliche Vielfalt, die ungewöhnlichen Sprachbilder, die „umwegige“ Syntax, die abschweifenden Erörterungen, die verlangsamenden Einschübe und Streckungen von Augenblicken, die verblüffenden Deutungen und bewunderungswürdig ausgemalten Bewegungen menschlicher Gedanken, Gefühle, Impulse, Handlungen und Beziehungen zu erfassen und die vermeintliche Umständlichkeit hochpräziser Schilderungen von Orten, Natur, Menschen und inneren Vorgängen als akribische Portraits zu genießen. Zudem entgingen dem Leser in Nebensätzen, Dialogbeiträgen oder Monologen hineingesteckte Überzeugungen, ideologische, erkenntnistheoretische Anspielungen, geschichts- und lebensphilosophischen Ausflüge des Autors, die diesen Kosmos von Inspirationen, Ideen, Gerüsten verschiedenen Personen in den Kopf stellt, in den Mund legt, deren Lebensschritte und Lebensäußerungen leiten lässt. Dem flüchtigen Leser entginge ferner die einmal derbe, ein andermal subtile Ironie, das drastische bzw. feine Spiel mit Konventionen, die Dramaturgie verschiedener Höhepunkte. Und ein flüchtiger Leser könnte die Charakterisierung von Personen und personellen Konstellationen nur unzureichend erfassen. Dort, wo es dem Autor wichtig ist, wiederholt er die Hauptcharakteristik einer Figur – in erstaunlich wenigen Worten – , wo immer sie in dem Labyrinth erstmalig wieder auftaucht, so dass der Leser die Figur wieder verorten kann.
Struktur des Bandes
Heimito von Doderer legt das Buch als eine Chronik an, die ein Graf schreibt. Aber nicht er allein. Sondern bestimmte andere helfen ihm dabei. Indes: Der Graf wird in eine personelle und sachliche Konstellation so sehr involviert, dass er als objektiv(ierend)er Erzähler aussteigt. Die Chronik ist keine mehr und wird doch weitergeschrieben – im Rückblick von Jahrzehnten von dem Grafen und anhand seiner und fremder Notizen. Allerdings kann er all das, was er den Leser wissen lässt, trotz seiner Zulieferer nicht wissen. Insofern ist der Autor doch der allmächtige Erzähler. Aber das mag vorzugsweise für literaturwissenschaftlich, romantheoretisch relevant sein. Das Entscheidende für den Lesegenuss, der sich unweigerlich einstellt, sobald man die ersten zig Seiten sich eingelesen hat in eine vor Präzision, Wortreichtum und -originalität, vor Schachtelsätzen und feiner Ironie strotzenden Altertümlichkeit der Sprache. Dieser Lesegenuss schließt das gedankliche, intellektuelle Mitlaufen und Reflektieren dermaßen ein, dass man beim Lesen lacht, lächelt, mit dem Kopf wägt und innerlich aufbegehrt – kurz: „nach-denkt“ und impulsiv das eine oder andere Behauptete mit einem Menschen diskutieren möchte.
Lesen!
Dieser Autor verdient die Neuentdeckung und die Aufmerksamkeit vieler Leser – trotz seiner politisch und ideologisch für manchen Leser nicht konsensfähigen Orientierung und Handhabung seiner zeitweiligen Verstrickung mit der NS-Ideologie. Man lese nicht nur weitere Romane von Heimito von Doderer, sondern dazu die exzellent, kritisch, kenntnisreich, originell und wohlwollend geschriebene „Durchquerung“ des „Kontinent Doderer“ von Klaus Nüchtern (alles im C.H.Beck-Verlag).

Regina Mahlmann