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Die andere Seite der „Gesundheit“

Autor Simon, Fritz B
Verlag Carl-Auer
ISBN 978 3 89670 817 5

Die Anführungszeichen, in die der Begriff „Gesundheit“ im Titel gesetzt ist, verweist darauf, dass Fritz B. Simon bereits Mitte der 1990er auf kritischem Fuße mit der unbedarften Verwendung stand. Nimmt man den Untertitel hinzu, weiß der Leser, was ihn erwartet: Eine systemtheoretische Betrachtung eines der gebräuchlichsten Termini mitsamt inhärenter Unterscheidungen, der nicht nur für diagnostische und therapeutische, sondern auch für Zwecke und Ziele von Gesundheits- und Gesellschaftspolitik inflationär verwendet wird – neuerdings dramatisch zunehmend angesichts der Diskurse um ADS/ ADHS, Depression und Burnout. 

So können bereits Haupt- und Untertitel als Programm für das Buch gelesen werden: Es geht um eine kritische Absetzung von Begriffsdefinition, inklusiv Beschreibungen von Bedeutungen, Diagnose und Therapie, und von Traditionen (Kapitel 3) mit Hilfe des systemtheoretischen Paradigmas. Wer andere Werke des Autors kennt, dem ist vertraut, dass diese Perspektive ihre Hauptimpulse der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann verdankt, der seinerseits bereits nicht nur Aspekte der Theorie Talcott Parsons (ebenfalls Soziologe), sondern auch Konzepte von George Spencer Brown, Umberto Maturana und Francesco Varela fruchtbar in seine Gesellschaftstheorie integrierte. Fritz B. Simon bezieht zudem – als weitere „Gründungsväter“ – Gregory Bateson und von Foerster ein.  

Grundlegend nutzt der Autor die kategoriale und praktische Beobachtungsabhängigkeit: Der Beobachter in Relation auf sich selbst und relativ zu Interaktionen und Beziehungsqualitäten zum beobachteten System (der Beobachter beobachtet sich beim Beobachten). Dies stellt in Aussicht, sich der Annahmen zu vergewissern, die die eigene Beobachtung leiten, also auch die Befragung verwendeter Konzepte von Gesundheit und Krankheit (organisch, psychisch, soziale Implikationen) ermöglichen. Der Autor verknüpft diese Beobachterzentrierung mit der Theorie autopoietischer Systeme, um schlussendlich „eine allgemeine Therapietheorie zu formulieren, aus der Behandlungsrichtlinien … ableitbar sind.“ (11) 

Da der Beobachtung, begrifflich und tätlich, ein zentraler Stellenwert zukommt, führt Kapitel 2 aus, was es damit auf sich hat. Der Leser erhält sozusagen eine Einführung und lernt den inneren Zusammenhang von Beobachten bzw. Unterscheiden, Beschreiben, Bezeichnen, Bewerten und Erklären kennen. Das dritte Kapitel, die Absetzung von traditionellen Definitionen, Paradigmen, Konzepten, baut auf dem Verständnis von Beobachten über Verstehen und Erklären bis zu Interventionskonzepten (Folgen von Erklärungen) auf. Der Leser sollte das erste Kapitel gelesen haben, um den Unterscheidungen im zweiten folgen zu können.  

Kapitel 4 und 5 erläutern – unter Engführung auf die Thematik – unabdingbare systemtheoretische Konzepte wie System/Umwelt-Differenz, Autopoiese/ operationelle Geschlossenheit, strukturelle Kopplung, Strukturdeterminiertheit, Eigenlogik/-dynamik, Muster, etc. sowie vom Üblichen abweichende Begriffsverständnisweisen wie etwa „Ursachen“ als „generative Mechanismen“ oder die Unterscheidung von weichen und harten Realitäten oder vom Körper als Beobachter. 

Es folgen knappe Ausführungen zum Therapeutischen System (traditionell versus systemtheoretisch als dreier interagierender Systeme, „Dreiecksbeziehung“) und Bedingungen der Möglichkeit therapeutischer Intervention von und in autopoietische, operationell geschlossene Systeme sowie – Kapitel 7 – zur vorgängig immer wieder thematisierten Frage nach den „individuellen“ und sozialen Funktionen von Therapie. Diesen Gedankenstrang führt der Autor im achten Kapitel aus, nun speziell bezogen auf Psychiatrie und Psychotherapie (inklusiv Diagnostik). Er hebt nochmals hervor, was das herkömmliche Reden von Krankheit, Gesundheit, Symptomen, Abweichung, Korrektur, Heilung im Unterschied zum systemtheoretischen Konzept bedeutet: welche Implikationen und durch sie gesetzte Folgen bedacht sein sollten, welche Rolle Sprache, Regeln und Muster in Interaktionssystemen wie Familie im Symptombildungs- und Heilungsprozess haben und fragt, inwiefern gängige Therapien, die auf die Dyade Patient-Therapeut setzen, „genügend hohes Störpotenzial innewohnt, d.h. ob sie als Veränderung auslösende Perturbationen für das System Psyche wirken können“, weil die Dyade „nur eines von vielen sozialen Systemen (ist), mit denen sich die Psyche des Patienten strukturell koppeln kann.“ (130) Zudem gilt innerhalb des systemtheoretischen Paradigmas, dass – trotz des Redens über „psychische Krankheit“ – stets Aspekte des biologischen, psychischen und sozialen Systems involviert sind, eingebettet in ein „Überlebenssystem“ (132).  

Kapitel 9 und 10 widmen sich der Systemischen Therapie und entsprechender Strategien, besonders aus der Familientherapie, (differenziert nach „Krankheit“skategorien wie manisch-depressive, schizophrene, psychosomatische Muster). Hier klären sich noch bestehende Fragen (Axiome, Theoreme, Bedeutungen), werden Konzepte eingeführt wie dasjenige von Konflikt und manifestiert sich der Gewinn einer systemtheoretischen Betrachtung (zuweilen: Sezierung) und Beschreibung im psychophysiosozialen Raum, sowohl für eine allgemeine Theorie als auch für den Patienten und den Therapeuten. Erhellend, nicht zuletzt, weil dem gängigen Diskurs („zwei Typen generierender psychosomatischer Mechanismen“ (188)) widersprechend, sind auch die Ausführungen der „soziopsychosomatischen Hypothesen“, die das Zusammenspiel von Leib, Seele/Geist (Psyche) und sozialer Umwelt, umformuliert als „Prozessmuster“ unterschiedlicher „Härte“ (189) und im Sinn der Wechselwirkung als Entstehungsbedingung für Symptombildung, in einem unüblichen Licht zeigen und die erwähnten „Erkrankungen“ daraufhin analysieren.  

Das Schlusskapitel nimmt einige Motive der Einführung auf, die sich auf Begriff, Verständnis und Handhabung von Gesundheit und Krankheit beziehen, sowohl seitens von Patienten als auch von (Gesundheits-) Politikern. Der Titel des Kapitels lautet „Gesundheitsutopien“. Nach einigen Bemerkungen zu den Merkwürdigkeiten aus der Begriffsbenutzung geht der Autor über zu dem, was er „Gesundheitsbewegung“ nennt – unter dem Vorzeichen des „Strebens nach Gesundheit und Heil“ (193), das – politisch gewendet – im Verständnis von „Gesundheit als Ideal“ (194) hohe Risiken birgt. Dieser Gedanke ist in der Tat gesellschaftspolitisch brisant, grundsätzlich und angesichts der aktuellen gesundheitspolitischen Themen bzw. des mehr oder weniger öffentlichen Diskurses in der Bundesrepublik (z.B. Transplantation, mobile Wellness- und Gesundheitsüberwachung). 

Das Buch ist dicht geschrieben, anspruchsvoll und vermutlich vor allen anderen für jene eine gewinnbringende, lehrreiche Lektüre, die therapeutisch arbeiten. Sie sollten indes auch theoretisch mehr als nur ein wenig interessiert sein; denn die Herausforderung funktional- oder differenztheoretischer Systemtheorie besteht in ihrem Abstraktionsgrad und der latenten Aufforderung, alltags-bewährte Denkschemata und die Neigung, vor dem Verstehen mit (meist: moralisch gefärbter) Bewertung zu operieren, ebenso fahren zu lassen wie gefühlig-rhetorischen Redens über Gesundheit. (Im Carl-Auer Verlag ist dazu kürzlich ebenfalls erschienen: Das System der Abweichungen von Roland Schleiffer und mit einem begeisterten Vorwort von Fritz B. Simon.) 

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

Dr. Regina Mahlmann