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Der Sinn des Denkens

Autor Markus Gabriel
Verlag ullstein
ISBN 978-3-550-08193-4

Im dritten Band der Trilogie um den Neuen Realismus mit dem beabsichtigt zweideutigen Titel „Der Sinn des Denkens“ begründet Markus Gabriel das Denken als „sechsten Sinn“ und verweist darauf, dass Denken wie die anderen Kanäle sinnlicher Wahrnehmung darauf ausgerichtet ist, in Abgrenzung zu etwa der erkenntnistheoretischen Position Immanuel Kants direkt Wirklichkeit zu erfassen.

Die Sinnlichkeit begründet der Autor nicht zuletzt mit dem Umstand, dass Denken mit dem Körper synergetisch und konstitutionell verbunden ist: Wahrnehmungen unserer anderen Sinne(sorgane) beeinflussen unser Denken (und vice versa). (Das kennt man aus der Metaphernforschung sowie aus dem Ansatz des Embodiments, der übrigens auch in der Robotik verarbeitet wird.)

In der Sinnlichkeit erkennt der Philosophieprofessor aus Bonn einen Grund, der belegt, das Künstliche Intelligenzformen menschliches Denken nicht nachbilden können. Als zweiten Grund exponiert er die These, dass allein Menschen in der Lage sind, zu reflektieren, sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen und Bewusstsein: die Möglichkeit, bewusst Denken, Fühlen, Handeln zu steuern, auszubilden.

Wer die beiden vorgängigen Bände nicht gelesen hat, muss das nicht nachholen. Der Autor wird nicht müde, die Hauptpositionen des Neuen Realismus herauszustellen, diesen gegen Philosophen, die andere Denksysteme vertreten, abzusetzen und ihn mit mehr oder weniger eingängigen Beispielen zu illustrieren. Erfrischend, wenn auch nicht immer präzise, die Opposition zu (radikal-) konstruktivistischen und postmodernen Wahrheitskonzepten (bzw. –ideologien) mit ihrem egalitären Pluralismus, samt Folgen in Gesellschaft, Medien, Politik und für den Einzelnen. Gerade weil der Neue Realismus daran festhält, dass Denken in Form von Gedanken selbst Realitäten erschafft („Sinnfelder“), die sich allerdings um unbestreitbare Tatsachen (Wahrheiten) gruppieren, kann von beidem die Rede sein: von objektiven Tatsachen (Wirklichkeit) und von Perspektivenvielfalt, deren Ausfaltungen sich allerdings stets auf die Basis gemeinsamer Tatsachen stützen.

Es erstaunt nicht, dass diese antikonstruktivistische Realitätsphilosophie insbesondere in den Medien auf positive Resonanz fällt, ebenso bei jenen, die praktische Konsequenzen philosophischer (erkenntnistheoretischer) Positionen in den Blick nehmen. Der Neue Realismus löst die Sehnsucht nach Sicherheit ein: Sichere Erkenntnis ist möglich, weil es unbestreitbare Realien gibt, bereits denknotwendig: Wenn wir uns über etwas streiten, dann haben wir uns bereits auf etwas geeinigt, das alle Parteien sehen. Und er löst das Bedürfnis ein, multiperspektivisch empathisch zu sein: Wir streiten uns über einen Gegenstand, den wir alle anerkennen, aber wie wir ihn konstruieren/ deuten/ bewerten und welche Schlussfolgerungen wir ziehen, etwa in Fragen von Lösung oder Maßnahmen, das obliegt der Diversität von Perspektiven: Sichtweisen auf dasselbe. (Wer sich denkend vertiefen und den Horizont weiten möchte in Fragen des Zusammenhangs von Mensch und Welt, Mensch und biologischer, kultureller Evolution, in die Frage nach Mensch und Kosmos und nach Erkennbarkeit von Wirklichkeit und Wahrheitsaussagen, der lese von Wolfgang Welsch, Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive oder – ausführlicher – Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne.)

Wie die anderen Bücher ist auch dieses für ein interessiertes Publikum geschrieben. Die damit verbundene Flottheit in Formulierung und Gedankenführung geht zuweilen zu Lasten der Präzision und der Breite der Betrachtung. Das schadet dem Dreh- und Angelpunkt indes nicht: Denken als Sinn(esorgan, das kulturell geprägt wird) herauszustellen und Denken als Sinn hervorbringendes Tun auszuweisen, das zudem nicht algorithmisch hergestellt werden kann, zu begründen. Die Meinungsäußerungen, die ins Politische gehen, kann man teilen – oder auch nicht.

Regina Mahlmann