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Der Schatten von Prag

Autor Martin Becker/Tabea Soergel
Verlag kanon
ISBN 978-3-98568-124-2

„Prag 1910. Kisch ermittelt in seinem ersten Fall“ zeigt den berühmten Journalist quasi auf Seitenwegen, spannend und informativ auf gut 300 Seiten. Was mich auch motivieren sollte, endlich mit den gesammelten Werken von Egon Erwin Kisch zu beginnen, seit langen Jahren im Bücher-Regal auf mich wartend  – während das Autoren-Duo u.a. diese ausgiebigst studiert haben (siehe das Nachwort „Tänze zwischen Tatsache und Tatsache“ S. 309ff.) – übrigens ausgezeichnet mit dem Deutsch-tschechischen Journalismus-Preis.

Historisches wieder erweckt
…wird hier, mit viel Ironie, durchaus an den Humor (die Satire!) von Jaroslav Hasek erinnernd, der hier auch auftreten darf. So entsteht ein partiell fast noiriges Geschehen, dennoch unterhaltsam-spannend, mit sehr viel Gefühl, gerade rund um Lenkas erst langsam „aufgedeckte“ lesbische Beziehung(en). Und das rund ums (wie alle 76 Jahre) Auftauchen von Halley: „Prag ist in Aufruhr. Der Weltuntergang steht bevor. Im Mai 1910 soll die Erde den Schweif des Halley‘schen Kometen kreuzen – ein jeder blickt zum Himmel, und die Verbrecher auf Erden haben leichtes Spiel. Egon Erwin Kisch, berühmt-berüchtigter Reporter der »Bohemia«, ermittelt auf eigene Faust in seinem ersten Fall. Er lässt sich sogar als Schwerverbrecher ins Gefängnis sperren, um mit dem Kopf der Prager Unterwelt Portwein zu trinken. Zum Glück bekommt Kisch Hilfe: Vom tschechischen Zöllner Novák, der sich mit Panikattacken herumschlägt, dem schüchternen Sonderling Brodesser und natürlich von seiner kongenialen Partnerin Lenka Weißbach, eigentlich Medizinstudentin, die sich fürs Böse interessiert und wie ihr Kumpel Kisch in den engen Gassen von Prag zu Hause ist. – Der furiose Auftakt einer neuen Krimi-Serie um Egon Erwin Kisch und Lenka Weißbach als Ermittlerduo.“ Und auch Franz Kafka kommt ins Spiel (z.B. S. 64f.), als weiterer Jude und Deutscher unter vielen Tschechen, mit vielerlei Verwicklungen – gar mehr, als es über weite Strecken scheint…

Lokalkolorit und zeitgeschichtliches Ambiente
…sind bestens auch mit Sprache vermischt, wenn auch nur durch eingestreuten Wortschatz (Tschechisches inkl.) und angedeutet zeitgemäße Formulierungen. Dafür sorgt primär Kisch, dessen Auftritte fast biografische Züge annehmen (S. 34 usw. usf.). Damals noch gängige Salons gehobener Damen spielen eine Rolle mit ihrem sehr gemischten Publikum (S. 134ff.), Zeitungs-Redaktion und Journalismus natürlich durchgehend (S. 157 usw.), gar Vegetarier hat´s demnach seinerzeit schon gegeben (S. 180f., Lenka etwa). Und in diversen Kapiteln wird über eine volle Seite (oder länger) Geschehen komprimiert vermittelt, wie es als Schlagzeilen gedruckt publiziert gewesen sein mag (z.B. 194 eingangs zu Kapitel 28: „Und in … entgleiste der Orient-Express…“) – unter Vermischtes am ehesten  … Wie stark antisemitisch die Stimmung seinerzeit bereits (oder wieder oder immer noch…) war, wird mehrfach angedeutet bis verdeutlicht (S. 230ff. zu Der Talmudjude als eine der vielen Schmähschriften). Und doch bleibt zentral das Ermitteln im Umfeld mehrerer Morde, somit ein fast klassischer Lokalkrimi also: Lesen – und sich auf die Fortsetzung freuen! HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de

Hanspeter Reiter