Der patagonische Hase
Autor | Claude Lanzmann |
Verlag | sonstige |
Seiten | 688 Seiten |
ISBN | 978-3-498-03939-4 |
Preis | 24,95 |
Der Rückblick auf bald ein Jahrhundert Weltgeschichte in Form einer Autobiografie: Weltkriege, Holocaust, Naher Osten. Judentum und Philosophie. Festhalten und Wiedergeben – oder Loslassen: Gesellschaften, Menschengruppen – und Einzelschicksale, eng verwoben. Immer wieder fokussiert auf das Motto jenes neugierigen Tieres, das sich vor allem durch seinen starken Überlebenswillen auszeichnet: „Wenn es wirkliche eine Seelenwanderung gäbe und ich wählen könnte, würde ich, ohne zu zögern, am liebsten als Hase wiedergeboren werden. In Shoah gibt es zwei kurze, aber für mich zentrale Einstellungen … der Hase ist klug … wie er seine Wirbelsäule durchdrückt, seine hohen Läufe knickt und unter dem Stacheldrahtzahn hindurchschlüpft.“ (S. 326f.) Shoah ist das Lebenswerk des Autors, der schon auf über acht Jahrzehnte zurück blickt, als er seine Autobiografie verfasst: Ein neunstündiger Film über den Holocaust aus dem Blickwinkel von Opfern und Tätern. Lanzmann ist Zeitgenosse von Sartre und Deleuze, in Beziehungen zu Angelika Schrobsdorff und Simone de Beauvoire – Personen der Geschichte, die er in langen, wieder kehrenden Passagen letztlich biografiert. Er berichtet von der Resistance – und von Widerständen in Israel gegen diverse seiner Projekte. Und wie er sie letztlich doch durchsetzt und realisiert. Leser begleitet ihn auf Reisen und durch geniale wie depressive Momente im Entwickeln seiner Wege, für die Nachwelt festzuhalten, was seine Sicht der Dinge ist: „Heute sage ich mir, dass sich damals unsere Jugend und die Jugend der Welt verbanden, und gewiss hat jedes erste Mal eine unvergleichliche Würze. Und doch gelingt es mir noch jetzt, mit voller Unmittelbarkeit das zu fühlen, was ich mit zwanzig Jahren empfunden habe …“ (S. 244) Sein Judentum ist eher das Gegenteil von Orthodoxie, was sich in seinen Filmen durchaus spiegelt, siehe „Warum Israel“: „Who is a Jew? Das ist das größte Problem Israels, das einzige, das Aufmerksamkeit verdient … kein technisches, sondern ein prinzipielles Problem, ob Sie es nun ontologisch, metaphysisch, theologisch oder sonst wie nennen.“ zitiert er einen Protagonisten seines Films (S. 309). Sehr persönlich auch Kapitel wie jene über Nordkorea und seine Versuche, Land & Leuten jenseits des kommunistischen Regimes jene Beobachtung zu gewähren, die sie verdienen – inkl. eigener Verstrickung durch eine verrückte Verliebtheit. Als Publizist und Filmemacher hat er die Welt bereist und eher aus ihr heraus berichtet denn über sie. Dabei beleuchtet er auch andere Quellen und beurteilt sie, inkl. Sartre, mit dessen Sichtweisen und Umgehens(un)arten er sich durchaus kritisch auseinandersetzt, dennoch: freundschaftlich verbunden. Leser begleitet Lanzmann auch durch den Besuch von KZs, deren „Psychologie“ er auch dadurch zu entdecken versucht, dass er sich ins Umfeld begibt: Wie war es den dort Lebenden möglich, sich zu arrangieren? – Der Autor schließt u.a. hiermit: „Neben der Todesstrafe wird die Vergegenwärtigung – aber ist da ein Widerspruch? – die wichtigste Angelegenheit meines Lebens gewesen sein …“ (S. 666)