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Der Leopard

Autor Giuseppe Tomasi di Lampedusa
Verlag Piper
ISBN 978-3-492-05984-8

1860 kündigt sich mit Garibaldi und seinem Heer von Gesinnungsgenossen im Kampf gegen die Bourbonen und für die Einheit Italiens eine neue politische Ära auch Siziliens an. Don Fabrizio, Fürst Salina, als Adeliger ungewöhnlich mathematisch gebildet, mit Ehrenauszeichnungen auch in der Fachwelt als Astronom anerkannt, „betrachtete den Niedergang seines Standes und seines Vermögens, ohne irgendeiner Tätigkeit nachzugehen oder auch nur die geringste Lust zu verspüren, etwas dagegen zu tun.“ (S. 11)

Auf zu neuen Ufern
Die Begründung formuliert Don Fabrizio einem Chevalley gegenüber, der ihn überreden soll, Mitglied eines neu gegründeten Senats zu werden (S. 220ff). Doch der Fürst lehnt ab, da er als Senator in ein Gestaltungsobligo im Sinn des Neuen gedrängt würde: „Wenn es sich um eine ehrende Auszeichnung gehandelt hätte, um einen bloßen Titel, den man sich auf die Visitenkarte schreibt und basta, dann hätte ich ihn gerne angenommen.“ Und dann führt er aus, was ihn als Sizilianer und Adelsmitglied zu der Ablehnung verleitet: „Wir Sizilianer sind durch eine sehr lange Fremdherrschaft von Leuten, die nicht unserer Religion angehörten und nicht unsere Sprache sprachen, daran gewöhnt, uns mittels endloser Haarspaltereien wegzuducken. Ohne diese Angewohnheit hätten wir uns vor den byzantinischen Steuereintreibern, den arabischen Emiren und den spanischen Vizekönigen nicht retten können. Jetzt ist das nicht mehr zu ändern….wir sind eben so.“ (224) Zudem habe man seit der Landung Garibaldis in Marsala die Sizilianer nicht mitwirken lassen, und daher verbitte sich dies jetzt. Und schließlich: „Was wir Sizilianer nie verzeihen, ist, dass überhaupt etwas gemacht wird. Wir sind alt, Chevalley, sehr alt. Seit mindestens fünfundzwanzig Jahrhunderten tragen wir das Gewicht großartiger fremder Kulturen, die alle vollständig und vollendet von außen gekommen sind, keine ist bei uns selbst aufgekeimt, in keiner haben wir den Ton angegeben. ……Ich sage das nicht, um mich zu beklagen, es ist zum größten Teil unsere eigene Schuld, aber wir sind trotzdem müde und leer.“ (S. 225) Hinzu kommen Einflüsse durch bzw. Wechselwirkungen mit Klima, Umwelt, Fauna, Flora, Wind und Luft, Landschaft (227): „Das sind die Kräfte, die zusammen mit den Fremdherrschaften und den verschiedenen Invasionen….unsere Seele geformt haben.“ – es lohnt sich, die weiteren Ausführungen Don Fabrizios zu lesen, zumal sie gegenwärtigen Debatten über verhaltensbestimmende Kontexte und Einflüsse sehr nahe kommen.

Revolutionäres, Erosion von Tradiertem, resigniertes Registrieren, erkennende Wehmut.
In diesen Sätzen deutet sich an, worum es dem allwisssendem Erzähler, Giuseppe Tomas di Lampedusa, der dergleichen Gesellschaftsklasse angehörte, hochgebildet, mehrsprachig, geht: dem melancholischen Blick auf den Niedergang einer alten Ordnung. Und dies nicht primär, weil – in Gestalt des Neureichen und späteren Schwagers des Fürsten, Don Calogero Sedára, verkörpert – das Geld zu regieren sich anhebt und den Adel allmählich vertreibt, sondern weil es die Lebenssicht, den Verhaltens- und Verantwortungscodex des Adels zum Verschwinden bringt: „An seinem Aufstieg lag es, seinem und dem hundert anderer seinesgleichen, an ihren dunklen Machenschaften ihrer hartnäckigen Knauserei und Habgier, dass jetzt solch eine Todesstimmung in diesen Palästen herrschte“ (S. 287). Angesichts seines eigenen Lebensendes reflektiert Don Fabrizio: „Es half nichts, das Gegenteil glauben zu wollen der letzte Salina war er, ….Denn die Bedeutung eines Adelsgeschlechts steckt ganz in den Traditionen, in den lebendigen Erinnerungen, und er war der letzte, der ungewöhnliche Erinnerungen besaß“, und diese schließen eigene Erlebnisse, banale wie dramatische, ein und die Sensibilität für Feinheiten von Palästen ebenso wie für die natürliche Umgebung, für verschiedenste Pflanzen mit ihren Eigenheiten, Düften und Symbolik. Und auch für die Verantwortung für die ihm Schutzbefohlenen innerhalb und außerhalb der Familie.

Ein fürstliches Leben
Der Leser begleitet den Fürsten in der gesamten Ambivalenz, die die Hauptfigur des Romans innerlich, in Monologen, durchlebt, und äußerlich bei Rundgängen durch Paläste, bei Bällen, in der Natur und auf Reisen. Bereits auf diese Weise malt der Romanautor in feinsten Linien das ästhetische, soziale und gesellschaftliche Umfeld des niedergehenden Adelsgeschlechts, mit Wehmut und gleichzeitig einer zarten und dem erkennenden distanzierten Blick geschuldeten Ironie, deren Ausdrucksweisen dem Leser immer wieder Bewunderung und Lächeln abringt. Fürst Salina verschließt die Augen und den Geist vor dem Neuen nicht, unterstützt es zuweilen sogar und vereinigt alte und neue Welt in der Verehelichung seines geliebten Neffen Tancredi (der selbst im Dienst der garibaldinischen Sache stand) mit der bürgerlichen Tochter des Neureichen Don Galogero, einer scheinbar reinen Liebesehe, deren politische und karrieristische Zwischentöne seitens der Verliebten der Autor wie beiläufig mitthematisiert. Nicht in dieser Vereinigung von Adel und Geld, sondern in den Implikationen und Folgen liegen die Wurzeln der Melancholie Don Fabrizios begründet.

Der Fürst ist Realist und bedauert den Verlust adeliger Tugenden, weil an ihre Stelle nichts Äquivalentes rückt, eine Lücke klafft. Denn der Geist von Kapitalakkumulation, Effizienz, das Diktat ökonomischer Kriterien ersetzen die verantwortungsvollen, fürsorglichen Funktionen adeliger Hierarchie, seine Konflikte vermeidenden bzw. entschärfenden sprachlichen und symbolischen Redeweisen, Routinen und Handlungen keinesfalls. Und doch zeigt der Autor manche Wechselwirkung, assimilatorische Tendenzen zwischen Adel und Geldbürgertum, die meist unterhalb des Bewusstseins oder in stiller Anerkennung Denken und Verhalten beeinflussen. So etwa, wenn Don Calogero respektvoll Rhetorik und Benimm des „Schafadels“ anerkennt oder Don Fabrizio den scharfen Blick auf Effektivierung von Vermögen und Finanzen – ohne das Verhalten gutzuheißen, weil es ihm ethisch missfällt.

Geschichte der Geschichte
Der Leopard ist das Wappentier des Hauses Salina, und der Fürst verkörpert dieses stolze, kräftige und elegante Tier bis zu seinem Lebensende, an dem beide untergehen. Dieser Roman ist eine dritte Übersetzung, die der Übersetzer, Burkhart Kroeber, sowohl begründet als auch deren Schwierigkeiten und Eigensinnigkeit in seinem Nachwort erläutert und mit einem eigenen Anmerkungsteil versieht, eng verwoben mit historischen und biographischen Hinweisen. „Der Leopard“, dessen Veröffentlichung und Welterfolg der Autor, 1957 verstorben, nicht mehr miterlebte, ist ein klassischer Roman, nicht nur, weil er Zeuge einer untergehenden Epoche (empathisch-ironisch) schildert, sondern auch, weil in ihm Muster von Altem und Neuem, von Verschränkungen und insbesondere mentalen Unterschieden skizziert sind, die sich in der Geschichte der Menschheit wiederholen. Und weil der sprachliche Reichtum sich auf Metaphorik, Stil und dramaturgische Komposition von Geschehen, Gedanken und Perspektiven von Akteuren erstreckt und das Augenmerk sowohl auf Handlung und Entwicklung als auch auf verschiedenste Umwelten lenkt, ob Natur, Klima, Innenräume oder Himmel. Eine Lesefreude der besonderen Art – und zu Recht beschrieben als ein „Jahrhundertroman“. Dr. Regina Mahlmann www.dr-mahlmann.de www.gabal.de

Regina Mahlmann