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Der lange Sommer der Theorie

Autor Philipp Felsch
Verlag C.H.Beck
ISBN 978-3-406-66853-1

Jacob Taube forderte seine Studenten auf, „in jedem bedeutenden Werk nach dem Satz zu suchen, um dessentwillen es geschrieben sei“, so Philipp Felsch )S. 210). Welch ein Appell!

 

So aufregend und spannend liest sich selten ein Buch, dessen Dreh- und Angelpunkt Theorie ist. Keine wissenschaftshistorische Darstellung, sondern – aufgehängt am Entstehen, Werden und den Veränderungen des Westberliner Merve-Verlags mit seiner zentralen Figur Peter Gente – ein Zeitkolorit, dessen Fokus in den Theorie aufsaugenden, mit ihr sowie durch sie lebenden Personen.

 

Jeder Leser, der ein Faible für Theorie und Denken hat, ein Gefühl für ihre Versprechungen und Möglichkeiten der Ventilierung von Bedürfnissen nach Verstehen, Erkennen, Denken, nach Ideologie im Sinn von Anschauung, Lebenssinn(suche) und elanvoller Hingabe, wird bedauern, nicht dabei gewesen zu sein. Wer hätte nicht gern mit Adorno, Habermas und anderen Repräsentanten der Kritischen Theorie oder mit Vertretern der Posthistoire (etwa Foucault), des Wilden Denkens (etwa Derrida, Deleuze, Guattari) und Protagonisten jenes Paradigmenwechsels diskutiert, die den Pop in die Geisteswissenschaften einführten und das Denken und Theoretische, weil sprachlich Vermittelte in den Hintergrund stellten bzw. Theorie zu Kunst und Kunst zu Theorie transformierten und verlegerisch entsprechend umsetzten? Wer wollte nicht dabei sein, wenn sich einstige theoretische Weggefährten auf hohem abstrakten, schwer bis missverständlichen Niveau und in einer sprachverliebten Rhetorik, gar Sprachakrobatik (Sprache und Theorie als Kunst!) austauschten oder auch angriffen? Wer hätte nicht gern mitgestritten, als es beispielsweise um die Fragen ging, Elite oder Avantgarde? Theorie als Kunst oder raus aus der Kunstecke? Schreiben und Lesen als passive oder revolutionäre Akte? Terror als bewunderungs- oder verabscheuungswürdige Bewegung im Rahmen welcher Theorie? Meisterdenker und große Erzählungen oder deren Ende (z.B. Lyotard, Derrida, Dietmar Kamper)?

 

Das Gemälde des Historiker und Kulturwissenschaftlers malt die intellektuelle und gelebte Theorieverliebtheit samt ihrer Dynamik, der Irrungen und Wirrungen, der Verflechtung mit dem insbesondere Westberliner Umfeld (Lebensweise, Kneipen, kulturelles Nachtleben) nach und macht den Zeitraum von etwa drei Jahrzehnten internationales Theorieleben lebendig. Dies gelingt ihm durch zahlreiche erhellende Bezüge: etwa dadurch, dass er neben den Hauptakteuren des Verlages deren Kontakte in die USA und insbesondere in die französische Intellektuellen-Szene herstellt (Philosophischen, Soziologen, Berufsintellektuelle, Künstler); oder dadurch, dass er die nichtakademischen Einflüsse auf universitär Beschäftigte (vor allem Geisteswissenschaftler) herstellt, Beziehungen aufzeigt, wechselseitige Prägungen skizziert – stets verknüpft mit den wesentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen und deren Einflüsse auf die theoretischen Präferenzen einer Generation von Lesern, die Lesen als revolutionäre Tat, mindestens als potenziell revolutionär begreift – bis zur Wende zum Bild, zur Collage, zum Abschied von Sprache als Primäragens und Primärmovens. In knappen Strichen zeichnet Philipp Felsch zudem das jeweilig modische, trendige Theorem und Theoriedesign (!) nach, was durchaus Leser voraussetzt, die dank Vorwissens folgen können. Dabei ist es völlig unerheblich, ob man dem Autor in seinen Urteilen, Bewertungen, Schlussfolgerungen folgt. Darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, das Rhizomatische der Zusammenhänge, der Entwicklungen zu erkennen, sowohl in die Vergangenheit vor 1960 als auch in die damalige Zukunft, die heutige Gegenwart.

 

Es ist unmöglich, die Reichhaltigkeit dieses Buch zu resümieren. Deshalb hilft nur dies: Selber lesen! Ein hoch informatives und inspirierendes Buch, das dazu motiviert, sich bestimmte Theorien näher anzuschauen, zumal der Abstand von damals zu heute erstaunlich kleiner ausfällt als viele es für möglich halten. Manche Verästelung ist heute wieder en vogue und erscheint lediglich in einem neuen Kleid, etwa das Design Thinking, die Rede von heroischem oder postheroischem Denken (Management, Führen), Rhizom als alternative Denkfigur.

 

Lassen Sie sich be-geistern!

 

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

 

regina mahlmann