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Denken wie ein Neandertaler

Autor Wynn/Coolidge
Verlag Zabern
ISBN 978-3-8053-4604-7

Inzwischen wird wieder kehrend kolportiert, dass wir modernen Menschen (homo sapiens sapiens) durchaus auch Gene des eigentlich ausgestorbenen Neanderthaler-Menschen in uns tragen – 1-4% immerhin, darunter übrigens auch das so genannte „Sprachgen“ FOXP2: Demnach hat „man“ sich doch besser vertragen als häufig vermutet … Nichtsdestotrotz ist jener Zweig der Menschheitsgeschichte weitest gehend verschwunden: Lag´s am besseren Kampfverhalten von Homo Sapiens aufgrund optimierter Gehirnstrukturen? Tatsache ist wohl, dass der N. pragmatisch durchaus besser „aufgestellt“ war als sein Konkurrent um Wohnraum und Nahrung: „Der N. war uns heutigen Menschen ähnlicher als wir denken – und keineswegs ein primitiver Höhlenbewohner.Er verfügte über eine eigene Sprache und hatte ein umfangreiches, wenn nicht sogar differenziertes Vokabular. Archäologische Befunde belegen, dass der N. komplexe technische Verfahren beherrschte und die meiste Zeit seines Lebens in einer kleinen Familiengruppe verbrachte.“ – so die Autoren auf der U4. Und da ist womöglich auch der „Gordische Knoten“ gelöst, was das  bis dato kaum erklärbare Aussterben des N. angeht: Die These ist, dem N. habe es an differenzierender Kommunikation gefehlt, verbal wie nonverbal – resp. ist er relativ rasch damit ins Hintertreffen geraten. Begründet wird das von den Autoren damit, dass unser direkter Vorfahr in größeren Verbünden (eben über „Familie“ hinaus) zusammen gelebt habe, was nur funktionierte, weil „er“ vergleichsweise rasch seine Sprache weiter entwickelte. N. dagegen konnten auf „Empathie“ weitest gehend verzichten. Und als sie sie gebraucht hätten, war es quasi zu spät – beim Aufeinandertreffen mit Homo Sapiens nämlich … Ein faszinierender Band, durchaus unterhaltsam durch eine Art Storytelling in der Darstellung, siehe etwa das pointierende Kapitel „Kommt ein Neandertaler in die Kneipe …“ (S. 178ff.). Und ein Buch, das dem Leser eine neue Perspektive bietet, Einblicke in das N.-Leben und –Streben, mithilfe eben von „Befunden“: Interpretation er Funde gehört naturgemäß dazu, weil es uns an nachvollziehbaren Aufzeichnungen einfach mangeln muss, aus der Zeit vor 200.000 bis 30.000 Jahren, davon einige Jahrzehntausende übrigens durchaus parallel zu unserem direkten Vorfahr! Dazu untersuchen die versierten Autoren etwa unterschiedliches Jagdverhalten, aus das sie aus Funden massenhaft gestorbener Mammuts ebenso schließen wie aus Waffen aus Stein – Holz ist im Allgemeinen entschwunden … Wie entsteht Expertenwissen und wie wird dieses weiter gegeben – und letztlich weiter entwickelt? Dazu betrachten Wynn/Coolidge heutigen state of the art und versuchen, diese Erkenntnisse zu übertragen: „Alles technische Wissen ist Expertenwissen. Die Verfahren und Techniken, die ein Schmid einsetzt, sind im Langzeitgedächtnis gespeichert und durch Zerstückelung und Verkettung erlernt worden.“ (S. 89ff. und davor) Theory of Mind, Embodiment und Kognition (das um 400 g schwerere Gehirn des N. gegenüber uns heute brachte offenbar nur mehr Quantität bei geringerer Qualität …) gehen die Autoren nach, um das Auseinanderdriften beider menschlicher Vorfahren zu verstehen (S. 128ff.) – motorische Mimikry findet sich bei allen Primaten, „aber die körperbezogene soziale Interaktion kann auch um einiges subtiler vor sich gehen“. Welche Rolle spielte das Feuer? „Der Homo sapiens sapiens verwendete das Feuer für mehr als nur zum Kochen – er schaffte sich damit ein spirituelles Leben. Das scheint der N. nicht getan zu haben. Und das ist einer der wirklich großen Unterschiede zwischen ihm und uns.“ (S. 161) Es folgt ein gewichtiges Kapitel zum Sprechen und zur Sprachentwicklung (S. 166f.), mit Rückschlüssen aufgrund vermutetem Verhalten genau so wie erschließbarer Anatomie der Sprechwerkzeuge aufgrund archäologischer Funde. Das Kapitel schließt mit fünf Thesen, gipfelnd in diesen Aussagen (S. 176f.): „Die Sprache der N. war direkt und handlungsorientiert … Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die N. aufwendige Geschichten oder Mythen konstruierten … Außerdem gab es bei ihnen nur wenige Interaktionen mit benachbarten territorialen Gruppen …“. Und das hatte dann, wenn wir diesen Thesen und ihren Herleitungen folgen, u.a. diese Auswirkung: „Mögliche Persönlichkeitsmerkmale der N., Nr. 8: Fehlende Diplomatie und Hemmungen, Lakonie, Fremdenfeindlichkeit“ (S. 219ff.) Im abschließenden Kapitel 10  (S. 227ff.) gehen die Autoren der Frage nach, wie ein in die heutige Welt hinein geborener N. sich entwickeln könnte – also diesseits eines via Zeitreise erschienenen erwachsenen N.: Spekulativ wie spannend, wie das gesamte Buch. Sehr zu empfehlen, sich auch mit uns heutigen Menschen und unserer Kommunikation wie Kreativität auseinander zu setzen, mit anderem Blickwinkel. Ergo: Trainer und Berater ran! – HPR

Hanspeter Reiter