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Dein Gesicht morgen

Autor Marìas, Javier
Verlag sonstige
Seiten 488 Seiten
ISBN 9 783608 936360
Preis 24,90

Bd 2: Tanz und Traum, Stuttgart 2006, ISBN 9 783608 937152,
Bd 3 Gift und Schatten und Abschied, Stuttgart 2010, ISBN 978 3 608 93716 9

Die Trilogie des wortgewandten Autors erlaubt ganz unterschiedliche Lesarten. Die Umschlagseiten der drei Bücher verweisen auf die Virtuosität und Vielfalt der Sprache, ihres Reichtums und (bei den ersten beiden Bänden) auf die Geheimdiensttätigkeit des Erzählers. Ja, man kann die Bücher als Spionagegeschichten lesen; man kann sie auch als Liebesgeschichte lesen; man kann sie ferner und unter anderem lesen als Erzählung, in der ein Erzähler versucht, erzählend nicht zu erzählen, wortreich zu schweigen. Erwähnt seien noch zwei andere, weniger an den Inhalten als an der Erzählweise orientierte Lesarten: eine psychologisierende und eine postmodern-philosophische, sprachphilosophische.

Die psychologisierende lenkt den Blick auf das gleichsam obsessive Suchen nach Synonymen und Aufzählungen, wenn der Autor einen Gedanken ausschreiben möchte, der ihm – über das erzählte aktuelle oder erinnerte oder nur fingierte, imaginierte, visualisierte – Geschehen hinaus, dieses nur zum Anlass nehmend – ein Anliegen ist: sowohl in Bezug auf Aspekte der Selbstvergewisserung als auch in Beziehung zum Leser. Es scheint eine Dringlichkeit des Anliegens auf, das darin liegt, möglichst genau das in Worte zu kleiden, was dem Erzähler in Worten und Sätzen zu malen ein Bedürfnis ist. Ein weiterer Zweig einer psychologisierenden Lesart konzentriert sich auf den Titel: „Dein Gesicht morgen“ und damit auf die vermeintliche Hybris, einen Menschen nicht in Gänze, seine Vergangenheit und seine Zukunft, seine Performanz und seine Potenzialität beurteilen zu können. Diese außerordentlich eloquenten und in einer selten anzutreffenden Eleganz in der Schlichtheit der Formulierungen ausgeführten Passagen, die alle drei Bände dominieren, fesseln genau dadurch: dass sich der Erzähler Zeit und Muße und Raum nimmt und lässt, um noch eine kleinste Kleinigkeit in Wortzeichnungen zu übersetzen, zu überführen, zu transformieren. Daher auch die Prävalenz von Kommata (lange Sätze), daher kaum Absätze und andere moderne „Lesehilfen“ oder „Leseeinladungen“, die eine sogenannt flüssige und rasche Lektüre, das vermeintliche „schnelle Erfassen“ in Aussicht stellen.

Die Bände bereichern durch eine Leseerfahrung, die aufmerksames und feinsinniges Lesen verlangt und gleichzeitig genau diese Leseerfahrung ermöglicht – gemeinsam mit der Erfahrung, die heute mit dem Begriff der Entschleunigung, des Langsamen oder Verlangsamten, des Sich-Zeit-Nehmens und Mut-zu-Vertiefung-Habens verbunden wird. Die Bände lassen sich nicht rasch, gleichsam im Dauerlauf, lesen, „`mal eben durchlesen“ – wenn man nicht primär einen „Plot“ sucht und ihn braucht, um überhaupt die Einladung zu einer Lektüre annehmen zu können und sowohl den rhetorischen Reichtum als auch die inhaltlichen und ideellen Ausführungen nicht nur genießen, sondern zudem zum Anlass nehmen möchte, sie als Anregungen zu empfangen, weiterzudenken, Fäden aufzunehmen, um mit ihnen Weiteres zu weben – ob im Rahmen der eigenen Biographie oder im Horizont eines dem Erkennen (in bestimmten Grenzen fähigen) Wesens und dessen In-der-Welt-sein überhaupt.

Die oben postmodern-sprachphilosophisch genannte Lesart erkennt in der Architektur des Schreibens Züge oder Anklänge oder Nähe zum rhizomatischen Denken und Schreiben, zu einem Schreiben in Begriffen und unter dem Diktum von Konnektivität oder Konnexion und des rhizomatischen Geflechts, der rhizomatischen Verbindung von Erzählsträngen, die ihrerseits als Hin- und Herschwingen zwischen einem Eher Ja oder Eher Nein oder Eher So oder Eher Anders oder auch: sowohl Eher So als auch Eher Anders den Leser auf eine Schaukel setzen oder in eine Hängematte legen. (J. Derrida; F. Guattari und G. Deleuze als Exponenten dieses postmodernen Schreibens.) Ein Erzählstrang wird unterbrochen, weil innerhalb seiner gedanklichen Ausführung Assoziationen zu anderen oder weiteren oder weiter führenden und gleichwohl mit dem Anlass verbundenen Gedanken den Weg des Erzählens von eben diesem fortführen – um irgendwann an anderer Stelle zu einer anderen Zeit in einer anderen Situation als Stichwort, getragen von Assoziationen, die – analog – sich wie Fäden oder Wurzelgeflechte von ihrem Ursprung entfernt haben, auftauchen; oder Wiederholungen von Sätzen und Passagen, die dennoch den Weg zu wieder weiteren, weiter entfernten oder auch nicht entfernten, weil eine latente oder manifeste Affinität oder eine Konnexion aufweisende Gedanken, Erfahrungen, Erinnerungen, Erlebnissen, geschilderte Situationen und Dialoge aufnehmen und den Leser in neue, bisher nicht gewusste, zumindest aus veränderter Perspektive geschaute Erfahrungen, Gefühle und Gedanken, Imaginationen und Visualisierungen des Erzählers führen.

Der Erzähler trägt den Namen Jacobo oder Jack oder Jaime oder Jacques (je nachdem, wer ihn beim Namen nennt und je nach Situation, in der ihn eine Person beim Namen nennt, und je nach Intention, die der Namensnenner mit der Nennung des Vornamens beim Erzähler verfolgt) Deza. Er erzählt, obwohl er lieber schwiege – oder auch nicht, weil das Erzählen, das Ausdenken und Aussprechen sowohl wie Schweigen wirken kann und außerdem nicht klar ist, ob schweigen immer besser ist, „hilft“, als Reden und man ja viel reden kann und trotzdem schweigen – seine Perspektive und seine Art, die Welt, die Geschehnisse, seine Erlebnisse, seine Selbstsicht lernt der Leser kennen und durch ihn, gefiltert durch das Repertoire seiner – allerdings reichhaltigen, weil immer wieder mit Skeptizismus-Attitüde in Frage gestellten – Interpretationen und Antizipationen, die ja ihrerseits Interpretationen sind, auch die anderen Akteure seines Universums: die gegenwärtigen wie die vergangenen, die erinnerten wie die nur über Fiktionen oder Narrationen gekannten.

Dem Autor, der mindestens hierzulande bekannt wurde mit den Romanen „Aller Seelen“ und „Mein Herz so weiß“ und der an Ruhm vermutlich bereits gewohnt ist, schenkt den Lesefreudigen, die bereit sind, nicht nur mit den Füßen, sondern mit dem ganzen Leib und der mit ihm verbundenen Seele und dem Geist ab und an aus ihrem Alltagsrad hinauszutreten – diesen schenkt er eine Trilogie, die mehr als ein Mal gelesen werden wird – von möglichst vielen Leserinnen und Lesern!

Dr. Regina Mahlmann
www.dr-mahlmann.de
drmahlmann@aol.com
 

Dr. Regina Mahlmann