Das Wunder von Little No Horse
Autor | Louise Erdrich |
Verlag | Aufbau |
ISBN | 978-3-351-03786-4 |
Auto- und Dokufiktion – beides trifft zu, auf diesen vielfach nachdenklich machenden Roman. Ist die Autorin doch Nachfahrin deutscher Auswanderer wie auch der Chippewa, um die es hier zentral geht: Louise Erdrichs Großvater mütterlicherseits war Häuptling der Turtle Mountain Band. Väterlicherseits war´s ein schwäbischer Metzger, der Anfang der 1920er Jahre in wirtschaftlich schwierigen Zeiten seine Heimat verließ und mit einer Handvoll Wurst-Rezepten nach North Dakota immigrierte…
Indianer-Geschichte
…kann der Leser nur zu gut nachvollziehen, mit dieser Lektüre: Der Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern ist der immer mitlaufende traumatische Untergrund… „Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Vater Damien Modeste sich ganz in den Dienst seines geliebten Stammes der Ojibwe im abgelegenen Reservat Little No Horse gestellt. Nun da sein Leben zu Ende geht, muss er fürchten, dass das große Geheimnis seines Lebens doch noch ans Licht kommen könnte: er ist in Wahrheit eine Frau.“ Was die von ihm zu missionierenden Indianer offenbar längst wussten, zumindest ahnten… Apropos: Gleich zu Anfang zeigt sich der vorangestellte Stammbaum als höchst hilfreich: Die Verstrickungen der weit verzweigten Familien Kashpaw, Morrissey und Mauser (dem Aufkäufer indianischer Ländereien – und dann mit denen verschwägert…) sind derart vielfältig, dass Leser rasch den Überblick verlieren könnte – diverse Nebenlinien inklusive …
Persönliches Schicksal
…und Lebens-Umstände damaliger Zeiten sind eng verwoben, rund um Agnes-Damien, schwankend zwischen Lebens-Aufgabe als scheinbar männlicher Priester (etwa S. 388ff. in Reflexion) und den Gefühlen als Frau, die sie nun mal ist (also keineswegs „queer“), siehe etwa die Todo-Liste S. 112… In ihrem erstmals „ins Deutsche übertragenen Meisterwerk erkundet Louise Erdrich das Wesen der Zeit und den Geist einer Frau, die sich gezwungen fühlte, sich selbst zu verleugnen, um ihrem Glauben dienen zu können. Ein Buch mit Herz, großartig erzählt.“ Eben darum geht es im Kern all dieser oft tragischen, bisweilen auch komischen Geschichten in der Geschichte: Um das Aufeinandertreffen einander fremder Kulturen, Religionen, Gesellschaften. Auch als Fortsetzung früherer Romane, in denen die hiesige Hauptfigur schon eine Rolle spielte… Typisch amerikanisches Storytelling in unterhaltsamer Manier. Unterhaltsam und zugleich höchst informativ, fast dokumentarisch (siehe meine einleitende Bemerkung oben). Mit überraschenden Zeitbezügen, etwa Replik auf die Spanische Grippe (S. 176f.), zuzeiten meiner Niederschrift Mitte April 2020 nur zu „passend“. Gar detektivisch verhält sich Vater Damien, als es zu einem Mord kommt (S. 234f.), der zudem zum Ende seines Lebens (mit deutlich über 100 Jahren wohl) erneut relevant wird, als es um die potenzielle Heiligsprechung von Schwester Leopolda geht. Bücher übrigens spielen wieder kehrend eine gewichtige Rolle – gar als Einrichtungs-Variante (S. 280ff.). Und die Musik, die manches Mal die Hauptperson davor rettet, in Depression zu gleiten – Klavierspielen ist ein Kern des Tuns (Chopin vor allem). – Weiter führend zudem die Nachbemerkungen (S. 503ff.). Lesen! HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de