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Das Rätsel der Erkenntnis

Autor LeShan, Lawrence
Verlag Carl-Auer
ISBN 978 3 89670 860 1

Dieses Buch – in der Reihe „Systemische Horizonte“ erschienen – irritiert. Und dies durch mehrerlei. Da ist die über zig Seiten begleitende Frage, wann und wozu dieses Buch geschrieben wurde. Da ist die – vom Autor selbst öfter konzedierte – Tatsache, dass nichts von den Denkfiguren neu anmutet. Da ist das Literaturverzeichnis, das vorzugsweise ältere Literatur, vor allem psychologische, aufweist, neben einigen wenigen Klassikern aus Philosophie und Literatur. Da ist der Eindruck, der 1920 geborene klinische Psychologe und Psychotherapeut sei für diesen Band noch einmal seinen Ausbildungs- und Berufsweg entlang gewandert und habe – auf dem Weg zu seinem Alterswerk – noch einmal gründlich geschaut, welche Pflanzen, als Samen oder in Blüte stehend, er einsammeln möchte, um eine ihm offenkundig außerordentlich bedeutsame Botschaft zu formulieren: Dass es weder eine einzige für alle Menschen und Zeiten gültige Wahrheit geben könne (!), da und insofern Erkennen, Denken, Fühlen, kurz: Leben in kategorial differenten, nicht verbindbaren „Weltbereichen“ stattfinde, unter denen direkte Kommunikation (Affinitätsdefizit) nicht möglich sei. Lediglich innerhalb eines Weltbereichs könne konsistent argumentiert und – mittels der ihm eigentümlichen Methode – Wahrheit und Gültigkeit beansprucht, weil überprüft werden.

 

LeShan entlehnt Linné eine Taxonomie, die er zu einem Klassifikationssystem formt, das ihn die dem Bewusstsein (der Erkenntnis, der Erfahrung) zugängliche Wirklichkeit in vier Bereiche (systemtheoretisch: Systeme) differenzieren lässt (42ff), die – analog zur systemischen Denkfigur – über eigene Wirklichkeit erzeugende Wahrnehmungs“antennen“ und Generatoren, Methoden, Zugangsweisen allgemein, über eigene Logik und Wertmaßstäbe etc. verfügt, die allein darüber entscheiden, was wahr und falsch, was gültig ist und was ungültig – und warum. Stets bezogen auf nur das jeweilige System, den jeweiligen Welt- und damit Bewusstseinsbereich. Bewusstsein erscheint als mit Erkenntnis verwoben; es ist nachweisbar nur dadurch, dass es nachweisbar ist – mehr jedenfalls können wir nicht sagen; Bewusstsein ist an sich selbst gebunden, wir können nicht darüber hinaus, und wer das wolle, wolle etwas Unmögliches. Radikaler oder sozialer Konstruktivismus und auch Konstruktionismus scheinen begrifflich nicht auf, sind indes – ähnlich wie Systemfiguren – inhaltlich und kategorial präsent.

 

Wozu die passagenweise feinfühlig ausgemahlten Beispiele, Metaphern, Analogien animieren können, ist, wieder neu oder lebendiger achtsam zu sein: auf kategoriale Vermischungen (z.B. in Therapiekontexten), vor denen bereits Aristoteles gewarnt hatte; vor zu rasch bzw. falsch (im Sinne der Taxonomie) gefällten Urteilen und Bewertungen wie gut und böse (moralisch), falsch und richtig (rational), schlau und dumm etc.. Der Autor erinnert immer wieder daran, dass es diese unzulässigen Vermischungen von Nicht-Vermischbarem ist, dass Unheil bringe. Beispielsweise sei es ein Kategorienfehler, in einer Welt religiösen Fundamentalismus` mit der technologisch-instrumentellen oder logisch-mathematischen Rationalität zu argumentieren; die Sprachen verstünden einander schlicht nicht. Inwiefern Lawrence LeShans seinen Anspruch, den er praktisch mit der Taxonomie (dem ersten Schritt in einer Entwicklung zu etwas Ausgefeiltem) erfüllen kann, nämlich für solch brenzlige Fragen Hilfestellung zur Lösung zu finden, möge der Leser selbst beurteilen (z.B. 91ff, 113ff, 132).

 

Der Leser findet – so in der Retrospektive – vermutlich am ehesten Kontakt zu den Ausführungen (ihrem Ton, ihrer Gedankenführung), wenn er die Lektüre mit dem Anhang beginnt und zwar mit Anhang II (bis IV), um erst dann zum Buchanfang zu gelangen. Anhang II nutzt die antik-philosophische und orientalische Methode des Dialogs von Meister und (sich allmählich emanzipierendem) Schüler; hier entfaltet (oder resümiert) der Autor seine Hauptgedanken, die in den Teilen III und IV ergänzt und in den anderen Kapiteln ausgeführt werden.

 

Das Rätsel der Erkenntnis und die Genese von Realität werden nicht philosophisch, auch nicht neurowissenschaftlich und ebenso wenig interdisziplinär eingekreist, sondern eher philosophierend und emotional sensibel auf der Suche nach praktischen Zugängen im Interesse eines friedliche(re)n Zusammenlebens der Menschen.

Dr. Regina Mahlmann