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Das Ich, das viel besagt

Autor Dieter Henrich
Verlag Klostermann
ISBN 978-3-465-4317-1

Dieter Henrich, emeritierter Philosophieprofessor, denkt in diesem Buch nicht nur Fichtes Einsicht nach, sondern seinem eigenen Nachdenken über Fichtes Einsicht, indem er seine bereits 1966 publizierten Gedanken seinen neuen in der Buchausgabe voranstellt.

Sowohl in der Einführung als auch in der neu verfassten umfangreichen Schrift begründet er sein erneutes Nachdenken über die bis heute wirksame und wieder vermehrt diskutierte Einsicht Fichtes zum Ich im Rahmen einer Philosophie des Geistes, bettet das Nachdenken sowohl in den insbesondere philosophiehistorischen Kontext, nimmt in einem Kapitel explizit Bezug auf Immanuel Kant, von dem sich Fichte hatte zu seinem Nachdenken anregen lassen, und streift gegenwärtige Zeitzeugen und neuere Kontroversen. Sympathisch und informativ ist auch, dass der Autor sich selbst, sein eigenes Nachdenken, nachvollziehbar macht.
Diese Einsicht ist ein Widerspruch gegen zwei Positionen. Die eine, dem materialistischen Paradigma zugeordnete (und beispielsweise neurowissenschaftliche und neurowissenschaftlich flankierte Bewusstseinsphilosophie einschließende), besagt, Icherkenntnis, Ich- oder Selbstbewusstsein sei ohne materielle Grundlage (Gehirn) nicht möglich. Das andere, das sprachphilosophische und konstruktionistische, begriffliche Sprache zentrierende Paradigma meint, Selbstbewusstsein sei sprachlich, kognitiv verfasst. Beide Paradigmen verfallen (nach Fichte) in den Irrtum, Ichbewusstsein als zweiteilig zu begreifen, das Ich als Gegenstand zu nehmen, das vermittelt, über Beobachtung seiner selbst bewusst werde.

Demgegenüber stellt Fichte in seiner „Wissenschaftslehre“ das Diktum und in Dieter Henrichs Auffassung: die erstmalige Einsicht entgegen, dass Ichbewusstsein nicht als Gegenstandsbewusstsein gefasst werden könne. Wenn ein Ich sich im Spiegel erkennt, kann es sich nicht sicher sein, ob es es selbst ist; es könnte auch ein anderer sein, der aussieht wie das Ich. Und: Indem ich Ich denke, denke ich immer schon in einem Selbstbezug, der dem Ich-Sagen vorausgeht. Zudem genügt die sprachanalytische Konstruktion nicht. Diese überprüft Wahrheitsansprüche anhand von Aussagen und kann mit dieser Grundlegung nicht garantieren, dass ein Ich sich immer erkennt, wenn von ihm die Rede ist. Etwa wenn andere Personen über die eigene Person sprechen. Sie könnten – nur anhand der Aussagen bemessen – auch eine andere Person als mich meinen.
Worauf es also ankommt, ist eine „Hintergrundtheorie“, die- idealistisch – das Ich- oder Selbst-Bewusstsein weder gegenständlich noch vermittelt über Sprache, sondern als Unmittelbares fasst. Insofern setzt das Ich sich selbst (Fichte), sind Schöpfer und Geschöpf eines, und diese Einheit ist Hintergrund und damit Bedingung der Möglichkeit für Selbstbewusstsein und Ich-Sagen, das Bewusstsein eines Selbst seiner selbst. Insofern ist das Ichbewusstsein absolut und unteil- bzw. untrennbar.
Es scheint, das „Ich-Bewusstsein“ kognitiv gebunden bleibt, sei es als begriffliches bzw. reflexives Bewusstsein, sei es als (Bewusstsein einer) Emotion im Sinn eines kognitiv erfassten Ichgefühls. Sollte letzteres eingeschlossen werden können, erwiese sich Fichtes Einsicht als anschlussfähig für empirische (heute vorzugsweise von den Neurowissenschaften und diese im Verbund mit Bewusstseinsphilosophie beförderte) Erkenntnisse, die Ichbewusstsein mit Ichgefühl auch materiell (nicht nur Hirnbiologie, sondern den gesamten Körper mit seinen Wechselwirkungen für Ichbefindlichkeiten) verstehen und – in Fichtes Denkart verbleibend – das sich selbst setzende Ich umfassend, inklusiv sensualer/ sensualistischer, nonverbaler, gespürter psycho-physischer Befindlichkeiten, konzeptualisiert.
Die Fragestellung ist keineswegs trivial in einer Zeit, in der ein Ichbewusstsein erlebendes Ich wahlweise als Illusion oder als reines sozial und über Sprache hergestelltes Konstrukt, somit eine wahrheitsfreie Fiktion in essentialistischer Hinsicht und damit beliebig erscheint. Die selbst alltägliche Bedeutsamkeit der Fragestellung, wie das Ich oder Selbst sich seiner selbst bewusst oder erlebbar werden kann, zeigt sich ganz entschieden in zunehmender Verunsicherung („Das Ich scheint etwas Beliebiges bzw. das zu sein, das ich optimieren muss, oder?“), in der Wiedergeburt und dem breiten Anklang von „Spiritualität“, in der Renaissance von diversen Varianten eines philosophischen Realismus`. Es scheint, als komme der Mensch ohne ein nichtbeliebiges, voraussetzungsloses bzw. gleichsam selbstgenügsames Ich nicht aus, gleichsam ein Apriori, das festen Boden unter den Füßen spüren lässt und ermöglicht, selbstgewiss und selbstsicher sein Leben zu leben.

Regina Mahlmann