Skip to main content

Chinas Bauch

Autor Marcus Hernig
Verlag Edition Körber
ISBN 978-3-89684-166-7

„Warum der Westen weniger denken muss, um den Osten besser zu verstehen“ ergänzt die vom Autor erkannte Dichotomie von Fühlen und Denken zwischen Ost und West, häufig definiert, hier erlebbar gemacht: „Siebenmal Fühlen ist besser als hundertmal Denken, weiß man in China. Während im Westen der Kopf regieren will, entscheidet im Osten weit freimütiger der Bauch. Freude, Wut, Trauer, Angst, Liebe, Hass und Begehren: In China bilden diese sieben Grundgefühle die sozial akzeptierte Grundlage des menschlichen Verhaltens. In 14 Episoden und ungewöhnlichen Begegnungen spürt der Journalist und Asienkenner Marcus Hernig dem Fühlen der Menschen nach … Schnell wähnt sich hier der Leser in ihrer Mitte. Ein sehr persönliches Porträt der chinesischen Gesellschaft“, geleistet durch je zwei Geschichten für die sieben Gefühle, quasi als Blaupause für viele Beziehungs-Schwierigkeiten im globalen Zusammenspiel: „Wer China oder Russland oder den Iran verstehen will, muss zuallererst „das Volk“ und dessen Gefühle verstehen. Erst dann eröffnen sich seine Probleme, erklärt sich seine Wirtschaft, seine Geschichte oder Geografie“, so der Autor (S. 16) in seiner Einführung „Warm, satt, dunkel und süß“, in der er auch auf das West-Ost-Verhältnis (und –Verhalten) im Deutschland nach der Wende rekurriert. Auch die engen Bezüge zwischen Schrift (Lesen und Schreiben) und „der Sprache“ (dem Sprechen) zeigt Hernig, etwa bei „Freude“ (S. 36). Wie alte chinesische Prinzipien sich letztlich ins Gegenteil verkehren können, belegt ein Un-Fall: Eine (scheinbar?) schwächere E-Bike-Fahrerin wird von einem jungen Autofahrer angefahren, der das Kfz von seinen Eltern erhalten hatte, für ihn mehr Sicherheit zu schaffen, auf seinen Wegen. Eine üble Verkettung von Umständen führte letztlich dazu, dass daraus ein Mord, ein Todesurteil und eine Hinrichtung wurde („Angst“ S. 98ff.). Das ai-Phone als Beispiel für „Liebe“ in verschiedener Hinsicht verweist zugleich auf das verwirrende Verquicken von Tradition(en) und allzu rasch (an)gekommener Moderne, wie sie sich auch in der rasanten Urbanisierung niederschlägt: „Chinesen … haben eine religiösen Kult entwickelt – es ist der Kult um das Luxusprodukt“ wird Xin Haiguang zitiert (S. 146). „Der Allround-Kommunikator befriedigt auch Wünsche und Sehnsüchte, die Partner aus Fleisch und Blut zunehmend nicht mehr erfüllen kann, weil er … nur noch selbst konsumiert“ ergänzt der Autor selbst. Im abschließenden Kapitel „Chinas dicker Bauch“ kann sich Leser in ein Einordnen asiatischen Daseins begleiten lassen, in Vergleichen mit Japan und Indien (S. 210f.): „Weit mehr Menschen … zieht es in Kyoto, Osaka oder Tokio und noch mehr in Shanghai doer Peking in diese riesigen Kaufhäuser, um sich ihre „Stoffsäcke“ gut zu füllen [bezieht sich auf eine Mönchs-Geschichte]. Besonders in China sind die Menschen ja nach all den Jahrzehnten bescheidenen Lebens noch immer vom Konsumhunger gepackt …“.“Besser als in den Kontrastbildern des schlanken Asketen und des runden Knuddelmönchs könnte der Unterschied zwischen indischer und chinesischer Philosophie nicht verbildlicht werden. Indien brilliert in der Verneinung der stofflichen Welt, China in ihrer Bejahung …“ (S. 219) Und als Fazit: „Solange Chinesen mit ihren Gefühlen auf der Erde verwurzelt bleiben, halten sich diese in gegenseitiger Balance.“ HPR

Hanspeter Reiter