Cancel Culture. Demokratie in Gefahr.
Autor | Kolja Zydatiss |
Verlag | Solibro |
ISBN | : 978-3-960-79086-0 |
Professor Ernst-Wolfgang Böckenförde wird häufig mit dem Satz zitiert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Exakt dies wird seit einigen Jahren überdeutlich. Die Gefahr seiner Selbstabschaffung lauert unter anderem durch „Cancel Culture“. Kolja Zydatiss widmet sich in seinem Appell exakt diesem Risiko. Es geht um Tabuisierung, Ächtung, Anwendung von Moralisierung, Ideologie und persönliche Diffamierung und Disqualifizierung; es geht um Exklusionslogik und -praktiken, dominante empirische Ausschließungsverfahren, um totalitäre Ansprüche und Konformitätsdruck im Namen von Demokratie und Gerechtigkeit, kurz: um den Abschied vom offener Diskussion als Austausch von Argumenten gleichberechtigter Menschen.
Cancel Culture ist kein klar definierter Begriff. Kolja Zydatiss spricht dem Begriff die Qualität zu, spätestens im Rückblick als „Epochenbezeichnung“ fungieren zu können. Das scheint nahezuliegen, und der Autor begründet dies, mit Fakten, eigenen Deutungen sowie denen unterschiedlicher Wissenschaftler und kritischer Intellektuellen, mit Argumenten. Beispielen, vorzugsweise aus der Bundesrepublik. Diese dienen nicht nur zur Illustration, sondern zur Induktion. Sie zeigen den paradigmatischen Charakter auf und verweisen auf ein Grundmuster. Wer das Phänomen seit längerem verfolgt, weiß, wie stark verbreitet Cancel-Aktivitäten bereits in Deutschland sind und findet außerdem zahlreiche Belege auch in anderen europäischen Ländern (z.B. Schweden, Großbritannien, Frankreich) sowie in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Auf den Seiten 55ff skizziert der Autor in knappen Strichen Herkunft des Begriffs sowie verwandte Termini, nämlich Call-outCulture und Deplatforming. All diesen Konzepten sind die eingangs genannten , Grundmuster, Logiken, Praktiken gemeinsam; ebenso die Verbreitung durch definierbare Milieus, deren Personal sich selbst als gesellschaftliche und intellektuelle Elite begreift, als Vorreiter einer „diskriminierungsfreien“ und „gerechten“ Welt. Das ist definitiv falsch.
In diesen Kreisen finden sich vorzugsweise akademisch bzw. bildungsnah sozialisierte Personen und Gruppen, materiell komfortabel situiert, flankiert durch Mitglieder aus vorzugsweise Kultur-, Geistes-, Sozialwissenschaften, Verwaltung und öffentlichen Medien. Politisierte bzw. ideologisierte Wissenschaft, Moralisierung und Missionierung, volkspädagogische Ambitionen mit dem Impetus, alleinig über Richtiges, Wahres und Erstrebenswertes zu verfügen – all dies, zusammen mit Opportunismus selbst in der Politik, umkreist der Autor mit klarer Parteinahme für Gegenwehr.
Cancel Culture kann als Containerbegriff verstanden werden für bestimmte politische Einstellungen, Forderungen, Handlung(sabsicht)en, die – moralisch aufgeladen – dazu führen, dass Kontrahenten denunziert, Abweichler diskriminiert, daran gehindert werden, ihre alternativen Sichtweisen vorzustellen, diskutieren zu lassen. Das Ausmaß der vielfältig betriebenen Behinderung umfasst neben Verbotsforderungen Denunziation, Drohungen, aggressives Handeln gegen Personen und geschichtsträchtige Symbole wie Statuen, Gemälde; revisionistische und prohibistische Ambitionen zielen zudem auf Literatur und gegenwärtige wie historische Persönlichkeiten aus verschiedenen Wissenschaften, Philosophie, Ökonomie und Politik. In zahlreichen Fällen erhalten die Aggressoren Rückdeckung von Medien und Mandatsträgern, attackierte Professoren werden von Universitätsleitung und Kollegen aller Gender häufig genug im Stich gelassen. Opportunismus siegt.
Den Beispielen, die der Autor für solchartige Verbots- und Verhinderungs-, Gewaltaktivitäten mitsamt den konkreten Folgen anführt, sei hinzugefügt, dass Zensurambitionen und denunziatorische Aktionen inzwischen Wissenschaft und Intellektuellenkreise in einer dramatischen Weise eingeholt hat: dramatisch für Erkenntnisgewinnung und das Umsetzen von Erkenntnis in gestaltende Politik und demokratische Verfasstheit und auch für Persönlichkeiten, bis hin zur Verunmöglichung und Zerstörung von Karrieren. Die Folge ist ein Anwachsen von Anpassungsdruck, der sich darin äußert, dass sich jene, die sich als Abweichler sehen, ducken, nicht zu Wort melden und somit an einem Sich-selbst-verstärkenden Effekt mitwirken: Es scheint, als vertrete eine Mehrheit die Auffassungen der selbst ernannten revolutionären Elite. Deren Repression zeigt demokratiegefährdende Früchte, etwa indem Andersdenkende aus Wissenschaften, Journalismus, Publizistik, intellektuellen Zirkeln ausweichen auf die Möglichkeit, anonym zu publizieren. Neben den von Kolja Zydatiss notierten Adressen seien exemplarisch genannt: z.B. in den USA etwa das „Journal of Controversial Ideas“, in Deutschland das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“. (Übrigens finden Interessierte instruktive Artikel dazu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; immerhin.)
Die „Kultur des Ausgrenzens und Stummschaltens“ ((Teil 1) alarmiert den Autor und motiviert ihn, pointiert, in journalistisch flottem Ton und leicht nachvollziehbar, wie ernst die Lage ist – über die Köpfe der Mehrheit hinweg oder gar zu deren Schaden. Der Autor stellt heraus, dass in den Milieus der Befürworter einer Cancel Culture aufgrund ideo-logischer Festlegung (und weiterer Interessen, die eine Rolle spielen können) eine Absage an für demokratisch verfasste Gesellschaften existenziell nötige Kernanliegen der Aufklärung wohnt. Ein Denken und Handeln im Geist der Aufklärung sieht ab von Herkunft, Hautfarbe, Milieu, Religion, Alter und allen anderen subjektiven und diskriminierenden, also ausschließenden, ausgrenzenden Kategorien. Aufklärung fußt auf dem Glauben an bzw. dem Vertrauen auf eine Vernunft, die auf Sachargumente setzt, die sich der Herrschaft des besten Argumentes verschreibt; sie setzt auf Objektivierung, Verallgemeinerbarkeit, auf Falsifikation(ismus), auf Unabhängigkeit von spezifischen, partikularen Gegebenheiten. Sie setzt auf Dialogfähigkeit und grundsätzliche Debattenbereitschaft, auf ein Argumentieren, das sich dem Anderen gegenüber öffnet und als Gelegenheit begreift, das eigene Denken und Meinen zu überprüfen, Erkenntnisse zu gewinnen, erst danach zu urteilen, zu entscheiden zu handen, Lebensverhältnisse zu gestalten.
Die Dramatik ist real. Kolja Zydatiss versorgt den Leser mit einigen konkreten Adressen, die sie belegen, etwa das Portal Cancel Culture, ein seit August 2020 existentes Institut namens „Freiblickinstitut“, dem der Autor angehört. Zu lesen gibt es dort eine ständig wachsende Sammlung von Fallbeispielen im deutschsprachigen Raum, mit Beginn Dezember 2019; ferner verweist er auf die Website des Hamburger Rechtsanwalts Joachim Steinhöfel, wo eine Auswahl „viele der skandalösesten Fälle“ (S. 68) zu finden ist, meinungsfreiheit.steinhoefel.de. Weitere Belege aus Hochschule, Ergebnissen von Umfragen, u.a. vom Institut für Meinungsforschung Allensbach, unterlegen die Dringlichkeit, gegen Cancel Culture vorzugehen.
Aus dem Inhalt hervorgehoben sei auch die Beschäftigung mit Schlagworten aus dem Milieu der Anhänger und Aktiven im Umkreis von Cancel Culture. Sie dienen als Kampfbegriffe, denunzieren und grenzen aus, und das in einer bemerkenswerten Beliebigkeit sowie dank Verschiebung von bis dato angestammten Bedeutungen. Wie etwa „rechts“, das rechtskonservativ bedeutete, nicht aber rechtsradikal oder extremistisch. Exakt dafür steht neuerdings die Chiffre „rechts“; differenziert wird nicht. Oder die inflationäre Verwendung von „Hass“. Dieses ein Gefühl und eine destruktive Geisteshaltung bezeichnende Etikett wird ausnahmslos für die Gegner der eigenen Ideologie verwendet. Oder das ebenso verschwenderisch benutzte „islamophob“, als Kampfbegriff längstens enttarnt, und gleichwohl wird er – etwa in „Die Zeit“ – kategorial als vermeintlich wissenschaftlich abgesicherter Terminus benutzt. Das ist unzutreffend, zumal hier neben eindeutiger Sympathien ein psychopathologisierender Begriff verwendet wird: All jene also, die sich einer blinden Islamophilie verweigern, sind demnach geisteskrank. Diese und weitere Kampfbegriffe des skizzierten Milieus, das eine „Revolution von oben“ (S. 99ff) probt und die Kampfzone um identitätspolitische Ambitionen erweitert hat, werden skandalöserweise von Personen, Gruppen, Institutionen, Entscheidern aus insbesondere Politik, Medien, Universitäten, Verwaltungen massiv unterstützt und hofiert.
„Was tun?“ fragt Kolja Zydatiss und erläutert, in welcher Weise sowohl individuell leistbare Wachsamkeit, Souveränität und Aktivitäten als auch das Nutzen von Plattformen, Netzwerken, Kontaktieren von Personen, Mitwirken an offenen Briefen/ Manifesten Beiträge sein können, um sich konstruktiv für „Freie Debattenräume“ und Meinungsäußerungen im Geist der europäischen Aufklärung und Emanzipation eines jeden sowie für eine Demokratie ohne Schließung einzusetzen, in der ohne Gewaltandrohung jeder seine Überlegungen kundtun und zur Diskussion stellen kann.
Der Essay bzw. das Plädoyer ist lesenswert, weil instruktiv, mit Hinweisen für weitere Lektüre und Initiative. Dabei ist es unerheblich, ob der Leser jeder These, jeder Herleitung und Schlussfolgerung des Autors folgt oder nicht. Was Kolja Zydatiss eindrücklich hervorhebt, sind Gründe und Phänomene eines Paradigmas, das inzwischen – ähnlich dem „Gerücht“ von Andreas Paul Weber – ein Ausmaß erreicht hat, das geeignet ist, die hiesige im Zeichen der unbedrohten Freiheitlichkeit und des Anspruchs, dass nicht Ideologie und Pippi Langstrumpfs „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“, sondern rational durchdachte, mit einem Bewusstsein für Folgewirkungen und auf politischer wie medialer Seite mit dem Bewusstsein für Verantwortung für diese Republik getragene Argumentation steht. Es ist mithin der Aufruf zu einem Kampf gegen Ausgrenzung (Umfragen, auch durch das Institut in Allensbach, zeigen wiederholt, dass nahezu 80% der Deutschen sich selbst in privaten Kontexten, geschweige denn in öffentlichen, nicht getraut, zu bestimmten „heiklen“ Themen (wie Islam(ismus), Migration, Gendersprache) eigene Gedanken, Meinungen, Beurteilungen, Einschätzungen kundzutun – aus Furcht vor Ausgrenzung.) Die Mehrheit ist somit eine weitgehend schweigende, sich abfindende, resignierende – und exakt dies wird von der „Gegenseite“ fehlgedeutet als Zustimmung zu ihrem ideologiegetriebenen Programm. Exakt dieser Fehlschluss muss korrigiert werden.