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An den Mauern des Paradieses

Autor Martin Schneitewind
Verlag dtv
ISBN 978-3-423-28187-4

David Ostrich, Orientalist aus Kanada/Toronto, begibt sich in eine Region des Persischen Golfs, wo anlässlich eines umfänglichen Dammbauprojektes neue Funde aufgetaucht sein sollen, die bisherige Legenden zur Genesis bereichern: Tontafeln, die neues Licht auf die Schöpfungsgeschichte werfen könnten. In seiner herausragenden Expertenpersönlichkeit ist er in einer Weise fachlich fokussiert, die ihn selbstunkritisch macht (er selbst gesteht zu, dass er zu seinem Schicksal durch seine Hybris beigetragen hat) und die ihn als eher unpolitisch und an Personen wenig interessiert erscheinen lässt.

Doch statt der ersehnten Funde und fachlichen Arbeit erhält David Ostrich vom Leiter des Projekts den Auftrag, die verschwundene Tochter zu suchen, um deren Geisteszustand sich „Mythen“ ranken. Diese zwei thematischen Stränge überlappen sich, und die dystopische und am Leitmotiv „Grenze“ („Mauern“ des Paradieses) orientierten Schilderungen erhalten zusätzlich Nahrung aus Erinnerungen Davids aus früheren Zeiten, in denen er als Soldat in der Region aktiv war. Grenze wird in diesem Roman als Ver- und Behinderung von Wünschenswertem, weniger als Ermöglichung von etwas betrachtet.

Den Auftrag, die Tochter zu suchen, bekam er, weil er sich nach Auffassung von Thaut in seiner Expertise durch sein ausgewiesenes und außergewöhnliches analytisches Vermögen und den Mut, gegen den Mainstream zu schwimmen, auszeichnet.

Im Verlauf der Suche wird David Ostrich der Macht des rätselhaften Thauts ebenso erliegen wie seiner Selbstüberschätzung und Borniertheit. Die eindrücklichen Beschreibungen dessen, was hier Grenze meint, was an der Grenze mit jenen geschieht, die sie schützen und jenen, die sie überwinden wollen, welchen Wert die Grenze hat – der Themenkreis ist aktuell und behandelt neben diesen Fragen zu Migration(sströmen) auch jene, die sich Gewalt, Klima, Natur, ansteigendem Meeresspiegel ebenso widmen wie Korruption und Hybris/ Charisma von Thaut. Diese düsteren, fast apokalyptischen Passagen laufen denen des persönlichen Erlebens von David parallel und konvergieren.

Helfen kann weder David noch der Offizier Atam, der gegen massive Gewalt revoltiert. Humanitär begründetes Engagement läuft leer. Beide werden gefangen genommen, in der Wüste, dem unbegrenzten Gefängnis, und auch ein Fluchtversuch von David scheitert, und die Beschreibung dieses Scheitern thematisiert die immer wieder auftauchende Frage nach Wahrheit und Unwahrheit, Realität und Illusion, Fiktion, Fantasie – und Sinn, Sinnhaftigkeit eingedenk von Relativität, Konstruktivismus und Flüchtigkeit. Die Atmosphäre, wie sie den Leser von Camus „Der Fremde“ oder „Die Revolte“ beschleicht, wabert.

Der Leser betritt eine Romanwelt, von der unsicher ist, ob der Autor wirklich der Autor oder eine Fiktion der österreichischen literarischen „Großmeister“, dem Übersetzer und Mythen- und Sagen-Kenner Raoul Schrott und dem Nachwortautor Michael Köhlmeier, ist, die übrigens auch die Lesungen bestreiten. Der Leser betritt zudem eine Welt mit düsterer, zuweilen melancholischer Grundstimmung, mehr oder weniger grotesken Szenen, Gesprächen, die sich um Deutungen von Funden drehen und mehr oder weniger poetisch beschriebenen Befindlichkeiten, innere Mono-und Dialoge und Umfeldbeschreibungen.

Der Leser liest zudem einen Roman, von dem behauptet und im Nachwort eloquent ausgeführt wird, dass dies der einzige und erst nach dem Tod von Martin Schneitewind, einem angeblich ehemaligen WG-Mitbewohner zu Studentenzeiten mit geheimnisvoller Vergangenheit, einnehmender Persönlichkeit und unberechenbarem bis opportunistischem Verhalten, gefundene Roman ist. Doch ob das stimmt? Michael Köhlmeier fügt in seine erinnerte Schilderung von Begegnungen mit Martin Schneitewind nämlich auch Relatvierungen ein, die zumindest Raum für Zweifel lassen. Es ist – angeblich – die Lebensgefährtin Martin Schneitewinds, ebenfalls eine Bekanntschaft aus den WG-Zeiten, die Michael Köhlmeier in seinem Nachwort als Überbringerin dieses exzeptionellen Romans vorstellt.

Regina Mahlmann